Der Totenleser
gelbliche Ton in den Augendes Trauernden auf, den er dank seiner medizinischen Kenntnisse auf ein Leberleiden zurückführen konnte.
»Manchmal verschlimmert der Tod eines Angehörigen die Neigung zu Erbrechen und Übelkeit«, bemerkte Ci mitfühlend. »Wenn Sie nichts dagegen tun, wird der Schmerz, den Sie auf Ihrer rechten Seite spüren, Sie über kurz oder lang ins Grab bringen.«
Bei diesen Worten begann der junge Mann zu zittern, als hätte ihm ein böser Geist ein unabwendbares Schicksal vorhergesagt. Als er ihn fragte, ob er vielleicht ein Wahrsager sei, verstummte Ci.
»Und was für einer«, mischte Xu sich lächelnd ein.
Der Alte verlor keine Zeit. Er trat auf den jungen Mann zu, nahm ihn nach einer erstaunlich übertriebenen Verbeugung beim Arm und lotste ihn ein Stück vom Trauerzug weg. Ci wusste nicht, worüber sie sprachen, doch Xus zufriedenem Gesicht nach zu urteilen schlussfolgerte er, dass ihr Geschäft die ersten Früchte trug.
* * *
An diesem Abend lernte Ci die Barkasse kennen, auf der Xu wohnte. Zweifellos lag die letzte Reise des Bootes schon eine Weile zurück, und was von ihm noch übrig war, lag mit Hanfseilen, die seinen Untergang verhinderten, fest am Kai vertäut. Es knarrte bei jedem Schritt und stank nach faulem Fisch, doch Xu präsentierte seine Behausung stolz wie ein Schlossbesitzer. Ci schob das Leintuch in der Türöffnung zur Seite und sah sich plötzlich einer Frau gegenüber, die ein Geschrei von sich gab, als würde sie überfallen. Sie versuchte, Ci und das Mädchen wieder hinauszujagen, doch Xu gebot ihr Einhalt.
»Das ist meine Frau, Apfelblüte.« Xu lachte, und im selben Moment tauchte eine zweite, jüngere Frau auf, die sich vor ihnen verneigte. »Und das ebenfalls, sie heißt Helles Licht«, brüstete er sich.
Beim Abendessen musste Ci das Getuschel der beiden Frauen ertragen, die sich ein ums andere Mal über die Idee aufregten, zwei weitere Personen an einem Ort unterzubringen, an dem keine Grille mehr Platz fand. Doch als Xu ihnen die Schnur mit den Münzen hinwarf, die er mit Cis Hilfe auf dem Friedhof verdient hatte, änderten die Frauen rasch ihre Meinung und setzten ein süßes Lächeln auf.
»Du bekommst schon noch deinen Anteil«, flüsterte Xu und tätschelte Cis Hand.
Dicht gedrängt wie Heringe lagerten sie sich zur Nacht. Ci musste neben Xus Füßen liegen und fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, neben dem verfaulten Fisch zu schlafen. Er überlegte, ob sein Unvermögen, Schmerz zu empfinden, ihm vielleicht eine besondere Fähigkeit zum Wahrnehmen von Gerüchen verlieh, und sofort kam ihm der seltsame Geruch in den Sinn, den er am Tag des Blitzeinschlags in seinem Haus bemerkt hatte. Dieser scharfe, intensive Geruch … Er wollte sich umdrehen, um eine bequemere Position zu finden, aber es gelang ihm nicht.
Vom plätschernden Wasser gewiegt, versuchte er einzuschlafen. In der Ferne waren die schwachen Gongschläge zu hören, die die Stunden anzeigten. Bevor er sich jedoch vergewissern konnte, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, übermannte ihn die Müdigkeit. In seinem Kopf stiegen Bilder aus seiner Universitätszeit auf, und ihn erfasste ein merkwürdiges Glücksgefühl. Er träumte gerade von seiner Abschlussfeier, als er spürte, wie ihm jemand den Mund zuhielt und ihn kräftig schüttelte. Erschrocken öffnete er dieAugen und roch den Atem des Wahrsagers, der ihn aufforderte, sich leise zu erheben.
»Es gibt Probleme. Schnell!«, flüsterte er.
»Wieso? Was ist los?«
»Ich habe dir ja gesagt, dass es gefährlich wird.«
16
Nachts verkehrten in Lin’an nur wenige Boote, so dass sie die Kanäle links liegenlassen und dem Unbekannten, der sie geweckt hatte, zu Fuß folgen mussten. Unter einer zerschlissenen Tunika, die irgendwann einmal orangefarben gewesen sein mochte, erkannte Ci ein dunkles Gesicht. Der Mann bewegte sich vorsichtig und hielt an jeder Ecke an, um zu sehen, ob ihnen jemand auf den Fersen war, wobei er sie durch Zeichen stehenzubleiben oder weiterzugehen hieß. Ci fragte Xu immer wieder, was los sei, der aber riet ihm, Stillschweigen zu bewahren und nicht herumzutrödeln.
Um den Streifen der Präfektur aus dem Weg zu gehen, durchquerten sie die Stadt auf den am wenigsten beleuchteten Nebenstraßen. Ci stellte fest, dass sie auf die Berge im Westen zusteuerten, wo sich das wichtigste buddhistische Kloster der Metropole befand. Obwohl sein offizieller Name Palast der Erwählten Seelen lautete, wurde es von den
Weitere Kostenlose Bücher