Der Totenleser
»Wenn wir Partner sein wollen, ist es das mindeste, was ich für dich tun kann, oder?« Er hielt einen Moment inne und legte die Stirn in Falten. »Natürlich müsstest du mir etwas bezahlen … Aber du hättest wenigstens das Problem mit deiner Schwester gelöst.«
»Bezahlen? Aber ich habe doch kein Geld.«
»Mach dir deshalb keine Sorgen. Es wäre nicht viel, und ich würde es außerdem gleich von deinen Einkünften abziehen. Sagen wir ein Zehntel?«
»Ein Zehntel?« Ci riss die Augen auf. »Das nennst du nicht viel?«
»Natürlich«, sagte das Männlein voller Überzeugung. »Und außerdem muss deine Schwester meiner Frau beim Fischverkauf helfen. Ich dulde keine Faulenzer in meinem Haus.«
Obwohl ihm der Preis ungeheuerlich erschien, beruhigte es Ci, zu hören, dass seine Frau sich um Mei Mei kümmern würde. Er lebe mit zwei Ehefrauen, sagte Xu. Außerdem habe er drei Töchter, die er aber zum Glück schon verheiratet habe und damit losgeworden sei. Ci machte sich vor allem Gedanken wegen der Gesundheit seiner Schwester.Als er Xu davon erzählte, antwortete der Alte, dass Mei Mei nichts weiter tun müsse, als den Fisch zu putzen und die Ware zu sortieren. Ci entspannte sich. Es sah aus, als könnte sein Leben wieder einen inneren Halt bekommen.
Gemeinsam berieten sie, wie sie die Arbeit am besten organisierten. Xu legte Ci die Abfolge der Beerdigungen dar, die er auf etwa fünfzig pro Tag schätzte und von denen ein Großteil auf Unfälle, persönliche Abrechnungen oder Morde zurückging. Er erklärte ihm, dass es zwar noch andere Totengräber gebe, er sich jedoch bemühen wolle, die lukrativsten Bestattungen an Land zu ziehen. Außerdem plane er nicht nur, Dinge über die Toten herauszufinden, sondern sie würden die Gelegenheit nutzen, um mit den Lebenden Geschäfte zu machen.
»Du kennst dich schließlich mit Krankheiten aus.Du kannst bestimmt mit einem Blick erraten, ob jemand am Magen leidet, an der Bauchspeicheldrüse oder an der Pankreas …«
»Bauchspeicheldrüse und Pankreas sind dasselbe«, berichtigte Ci.
»He, Kleiner! Spiel vor mir nicht den Schlaukopf«, raunzte der Wahrsager. »Jedenfalls kommen die Leute mit Gewissensbissen hierher. Du weißt schon: irgendeine unschöne Geste, ein kleiner Verrat, irgendein Diebstahl, den der Verstorbene in seinem Leben begangen hat … Wenn wir einen Zusammenhang zwischen ihrem möglichen Leiden und der gepeinigten Seele des Toten herstellen, werden sie sich von dem Fluch befreien wollen, und wir können sie ausnehmen.«
Zum Missfallen des Wahrsagers weigerte sich Ci rundheraus. Eine Sache sei es, mit Hilfe seiner Kenntnisse Genaueres über die jeweiligen Todesumstände in Erfahrung zu bringen, eine ganz andere aber, ahnungslose Leute, die eigentlich Trost brauchten, übers Ohr zu hauen.
Xu gab nicht klein bei.
»Einverstanden. Du erkennst die Krankheit, und ich kümmere mich um den Rest.«
Ci kratzte sich am Kopf. Es war unübersehbar, dass ihm die Arbeit mit Xu mehr als einen Verdruss bereiten würde.
An diesem Nachmittag nahmen sie an sechs Beerdigungen teil. Ci wollte einen Leichnam untersuchen, dessen gerötete Augenlider auf einen gewaltsamen Tod hindeuteten, doch die Angehörigen des Verstorbenen ließen es nicht zu. Als dies zum dritten Mal geschah, begann Xu sich zu fragen, ob er nicht auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Er forderte Ci auf, sich etwas einfallen zu lassen, sonst werde er von dem Vertrag zurücktreten.
Es dunkelte bereits, als sich ein letzter Leichenzug langsam den Hügel heraufschob. Ci atmete tief durch, vielleicht war das seine letzte Chance. Er bemerkte sofort, dass es sich um eine wohlhabende Familie handelte, denn der Sarg war prächtig verziert, und im Gefolge lief eine Gruppe bezahlter Musiker und spielte eine trübselige Melodie. Rasch machte er unter den Angehörigen denjenigen aus, der ihm am betroffensten schien: einen jungen Mann, dessen verweinte Augen echtes Unglück ausdrückten. Ci schämte sich für das, was er zu tun beabsichtigte, doch er zögerte nicht. Er musste Mei Mei versorgen. Also überzeugte er sich, dass seine Hände in den Handschuhen verborgen waren, und näherte sich dem jungen Mann unter dem Vorwand, ihm in seiner Trauer beistehen zu wollen. Dann schenkte er ihm ein Weihrauchstäbchen, dem er eine besondere Wirkung zuschrieb. Während er über den vorzüglichen Duft fabulierte, forschte er in der äußeren Erscheinung des Mannes nach den Anzeichen irgendeiner Krankheit. Ihm fiel der
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