Der Totenleser
meisten Einwohnern nur der Leichengrill genannt, denn dort wurden Tag und Nacht all jene Toten verbrannt, die man nicht beerdigen konnte. Als sie bei der Großen Pagode und dem gewaltigen Turm der Tausend Stufen ankamen, schien hinter bedrohlichen Wolken noch immer der Mond.
Der Mann, der sie hierhergeführt hatte, ließ sie anhalten und wies sich vor dem Pförtner aus. Dann betrat er denKomplex und befahl ihnen zu warten. Als er verschwunden war, drängte Ci den Wahrsager, ihm endlich zu sagen, was hier vor sich gehe, aber Xu meinte nur, er solle seinem Beispiel folgen und den Mund halten.
Wenig später erschien ein Greis mit hellen Augen und zittriger Stimme. Xu verneigte sich vor ihm, und Ci tat es ihm nach. Der Mann erwiderte den Gruß und bat sie freundlich, ihn zu begleiten. Während sie langsam hinter ihm her gingen, staunte Ci über die üppigen Verzierungen der Wände, die ganz im Gegensatz zur Nüchternheit der zu Ehren des Meisters Konfuzius errichteten Tempel standen. Sie durchschritten die Räumlichkeiten des Hauptgebäudes und schlugen den Weg zum Nordflügel ein, wo, wie es hieß, das Fleisch der Toten von den Flammen verzehrt wurde. Dort bogen sie in einen Gang, dessen karge Nacktheit nach dem prachtvollen Korridor zuvor irritierte und der unmittelbar in die Tiefen der Unterwelt hinabzuführen schien. Ekelerregender Gestank ließ auf die Nähe der Einäscherungskammer schließen. Ein Unbehagen erfasste Ci.
Die Kammer war eine in den Berg gegrabene modrige Höhle. Die in der Luft stehende Asche erschwerte das Atmen. Durch den Dunst erkannte Ci einen großen Scheiterhaufen, auf dem ein nackter Leichnam lag. Ringsum standen mehrere Personen. Ci zählte etwa zehn.
Als wüsste er, was er zu tun habe, trat Xu an den Scheiterhaufen.
»Der hier ist es?«, fragte er und machte Ci ein Zeichen, näherzukommen. Dann bat er die Anwesenden zurückzutreten, damit der junge Mann die Leiche untersuchen könne. »Ich wollte es dir nicht erzählen, um dich nicht zu beunruhigen«, flüsterte er Ci ins Ohr, während er achtlos die Glieder des Toten betastete, »aber dieser schweigsame Kerl hier warder Anführer einer der mächtigsten Verbrecherbanden der Stadt. Und die um uns herum stehen, sind seine Kinder. Sie wollen von uns wissen, wer ihn getötet hat.«
»Und wie kommen sie darauf?« Auch Ci flüsterte.
»Weil ich ihnen gestern erzählt habe, dass du es kannst.«
»Hast du den Verstand verloren? Dann sag ihnen, du hättest dich geirrt, und wir hauen ab«, zischte er.
»Das kann ich nicht tun.«
»Warum?«
Xu schluckte.
»Weil ich das Geld schon kassiert habe.«
Ci musterte die Angehörigen. Ihre Blicke waren kalt und schneidend wie die Klingen der Dolche, die sie umklammert hielten.Wenn er versagte, dachte er, würde es in diesem Raum mehr als nur eine Leiche geben.
Mit grimmiger Miene verlangte er mehr Licht und drängte sich an Xu vorbei. Im Stillen betete er, dass es ihm gelingen möge, die bei Richter Feng erworbenen Kenntnisse richtig anzuwenden.
Er hielt die Lampe an das Gesicht des Toten, eine formlose Masse aus Fleisch und getrocknetem Blut, der ein Ohr und ein Teil der Wangen fehlten. Man hatte unnötige Gewalt ausgeübt. Dennoch schien keine der Verletzungen tödlich gewesen zu sein. Angesichts der Starre der Gliedmaßen und der Färbung der Haut vermutete Ci, dass der Tod mindestens vier Tage zuvor eingetreten war. Er bat um eine große Menge Essig und befragte die Anwesenden über die Umstände, unter denen man den Verstorbenen gefunden hatte. Außerdem erkundigte er sich, ob er schon einem Richter vorgeführt worden sei.
»Niemand hat ihn untersucht. Der Leichnam wurde im Garten seines Hauses entdeckt, auf dem Grund eines Brunnens.Vondem einzigen Diener, der um diese Zeit arbeitete«, sagte einer der Anwesenden, der Ci außerdem an Xus Versprechen erinnerte, dass er den Namen des Mörders erraten werde.
Ci holte tief Luft. Wenn er zuließ, dass diese Männer an seine Unfehlbarkeit glaubten, hatte er später keine Möglichkeit mehr, sich zu korrigieren. Er überlegte, wie er das Problem lösen konnte.
»Nicht alles hängt von mir ab«, sagte er mit erhobener Stimme, um sicherzugehen, dass man ihm zuhörte. »Es ist wahr, dass ich Dinge erraten kann, aber davor stehen immer die Götter und ihre Absichten.« Er blickte den Klostervorsteher an.
Der Mönch stimmte Cis Worten mit einer Verbeugung zu, während die versammelten Angehörigen sich von der Erklärung unbeeindruckt zeigten.
Ci
Weitere Kostenlose Bücher