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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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betrachtete. Daraufhin verbarg er sie. Er hasste es, angeglotzt zu werden wie eine Jahrmarktsattraktion. Nachdem er die letzten Speisen verzehrt hatte, schickte er Mei Mei zum Spielen nach draußen. Das Mädchen gehorchte.
    »Kommen wir zur Sache«, sagte Ci freundlich. »Was verdiene ich bei dem Ganzen?«
    »Ich sehe, du bist intelligent …« Der Alte lachte, dann sagte er ernst: »Ein Zehntel des Gewinns.«
    »Ein Zehntel dafür, dass ich die meiste Arbeit mache?«
    »Na, da täusch dich mal nicht, Kleiner. Ich habe die Idee. Ich habe den Ort. Und ich habe die Toten.«
    »Und wenn ich ablehne, ist es genau das, was dir bleibt: die Toten. Ich will die Hälfte, oder es gibt kein Geschäft.«
    »Wofür hältst du dich eigentlich? Für den Herrn des Geldes?«
    »Du hast gesagt, es sei gefährlich.«
    »Das ist es auch für mich.«
    Ci dachte nach. Ohne die entsprechende Erlaubnis war der Umgang mit Leichen ein Verbrechen, das schwer geahndet wurde, und nach allem, was er über Xus Methoden wusste, hatte er den Eindruck, dass die Untersuchung von Toten durchaus zu seiner Arbeit gehören mochte. Er machte Anstalten aufzustehen, doch Xu hielt ihn zurück. Der Alte holte eine Flasche Reisschnaps hervor und füllte damit zwei Schälchen, von denen er erst das eine, dann das andere austrank. Er rülpste.
    »Einverstanden. Ich gebe dir ein Fünftel«, sagte er gönnerhaft.
    Ci musterte ihn. Er spürte sein Herz, es zitterte ebenso wie die Hände des Wahrsagers.
    »Danke für das Essen.« Ci stand auf.
    »Verdammter Kerl! Setz dich wieder hin! Die Sache muss sich für uns beide lohnen, und ich bin derjenige, der mehr riskiert. Wenn sie herauskriegen, dass ich mit den Leichen Geschäfte mache, werfen sie mich auf die Straße.«
    »Und mich werfen sie den Hunden vor.«
    Der Wahrsager runzelte die Stirn und goss sich einen weiteren Schnaps ein. Diesmal bot er Ci die zweite Schale an. Seine eigene leerte er noch mehrmals, bevor er wieder sprach. Schließlich erhob er sich und änderte die Stimmlage.
    »Sieh mal, mein Junge. Du denkst, die ganze Sache hängt allein von den besonderen Fähigkeiten ab, die du zu besitzen scheinst. Aber so läuft es nicht. Man muss die Angehörigen überzeugen, damit sie uns Zugang zu den Toten verschaffen, man muss ermitteln, wie weit wir bei ihnen gehen können,man muss sie vorher befragen, damit man ihre geheimsten Wünsche und Sehnsüchte kennt. Die Kunst der Wahrsagerei besteht aus einem Teil Wahrheit, zehn Teilen Lüge und einem Rest Täuschung. Wir müssen die reichsten Familien auswählen, während der Totenwache mit ihnen reden, und das alles mit der größten Vorsicht, damit uns niemand das Geschäft verdirbt. Ein Drittel von dem, was wir rausholen. Das ist mein letztes Angebot. Damit sind wir beide gut bedient.«
    Ci erhob sich erneut, legte die Fäuste auf der Brust zusammen und verneigte sich.
    »Wann fangen wir an?«, fragte er.
    * * *
    Den restlichen Vormittag lang richtete Ci mit Xu Steintafeln auf, säuberte Grabstellen und hob Gräber aus. Dabei gestand ihm der Alte, dass er manchmal zu einem buddhistischen Tempel gehe, um bei den Leichenverbrennungen zu helfen. Die Anhänger des Konfuzius, fügte er hinzu, verurteilten diese grässliche Methode, bei der der Körper vernichtet werde, aber der wachsende buddhistische Einfluss und die hohen Kosten der Beerdigungen treibe viele Bedürftige dazu, durch das reinigende Feuer ins Jenseits hinüberzuwechseln. Ci wollte ihn gern begleiten, denn es wäre eine Gelegenheit, wieder einmal praktische Erfahrungen mit Leichen zu sammeln, etwas, das er seit der Zeit bei Richter Feng nicht mehr getan hatte. Als Xu ihn fragte, was es mit seiner besonderen Begabung auf sich habe, antwortete Ci schnell, sie liege in der Familie.
    »Ist es dieselbe, die verhindert, dass du Schmerz empfindest?«
    »Dieselbe, ja«, log er.
    »Dann jammere nicht so viel und mach dich an die Arbeit.« Damit wies er auf ein neues Grab.
    Mittags aßen sie Reis mit einer schauderhaften Soße aus trübem Wasser, auf die Xu recht stolz war. Am Nachmittag reinigte Ci das Ewige Mausoleum und schuf Ordnung darin. Der Nebenraum, in dem der Wahrsager seine Instrumente lagerte, war eine einzige Müllhalde, so dass er sich Xus Wohnung wie einen Schweinestall oder gar schlimmer vorstellte. Aus diesem Grund war er nicht gerade begeistert, als der Alte ihm vorschlug, mit Mei Mei zu ihm zu ziehen.
    »Was hältst du davon?«, fragte der Wahrsager, ohne Cis Gesichtsausdruck zu beachten.

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