Der Totenleser
schwieg einige Sekunden, schüttelte den Kopf und kratzte sich, als hätte er Läuse. Schließlich hockte er sich hin und nötigte Ci und Mei Mei, es ihm gleichzutun.
»Auch wenn sie deine Schwester ist, sie muss verschwinden«, sagte er bestimmt.
»Warum soll ich immer verschwinden?«, mischte sich Mei Mei ein.
Ci sah sie mitleidig an. »Genau. Warum muss sie verschwinden?«, fragte er Xu.
»Weil … Was zum Henker hat ein Kind auf einem Friedhofverloren? Wo verstecken wir sie? Sollen wir sie mit den Toten spielen lassen?«
»Ich fürchte mich aber vor den Toten«, piepste Mei Mei.
»Ich weiß, dass es keine gute Idee war, aber ich kann nichts anderes tun«, stöhnte Ci. »Und da ich keine Ahnung habe, was für eine geheimnisvolle Arbeit ich machen soll, wird sie bei uns bleiben, bis ich eine bessere Lösung finde.«
»Aha! Wunderbar! Der Hungerleider stellt seinem Herrn Bedingungen.« Er trat nach einem Stein.
»Du bist nicht mein Herr!« Ci erhob sich.
»Mag sein. Aber du bist auf jeden Fall ein Hungerleider. Oder sogar zwei …« Er deutete auf das Mädchen und stieß den Fuß erneut in die Erde. »Verdammt noch mal! Ich wusste, dass das alles keine gute Idee war.«
»Willst du mir nicht erklären, wo das Problem liegt? Mei Mei ist gehorsam. Sie setzt sich in eine Ecke und stört nicht weiter.«
Xu ging wieder in die Hocke und brummte unverständliche Worte vor sich hin. Plötzlich stand er auf.
»In Ordnung.Wenn es die Geister so wollen. Schließen wir also unseren Vertrag.«
Um die Einzelheiten zu besprechen, führte Xu die beiden Geschwister ins Ewige Mausoleum, das Gebäude, in dem man die Toten für die Bestattung herrichtete. Der Wahrsager ging voran und entzündete eine Laterne, die einen dunklen, unangenehm nach Weihrauch und Leichen riechenden Raum beleuchtete. Mei Mei flößte der Ort Angst ein, aber Ci drückte ihre Hand, und das Mädchen beruhigte sich. Xu steckte eine Kerze an und stellte sie auf eine Art längliche Bank, auf der die Toten gewaschen wurden. Dann schob er das Chaos aus Tiegeln, Essenzen, Ölen und Instrumentenzur Seite und fegte Überbleibsel von Süßigkeiten und Tonsplittern kleiner Figuren vom Tisch, welche die Verstorbenen manchmal auf ihrem Weg begleiteten.
»Hier werden wir unser Geschäft betreiben«, sagte er und deutete, die Kerze hochhebend, stolz um sich.
Ci verstand kein Wort, vor sich sah er nichts weiter als einen leeren Raum.
»Ich habe es gleich erkannt«, sprach Xu weiter. »Deine prophetischen Kräfte …«
»Prophetische Kräfte?«
»Was sonst? Wenn man sich vorstellt, dass ich mich als Wahrsager versucht habe! Und du hast schön die Klappe gehalten, du Schuft!«
»Aber …«
»Hör zu«, unterbrach er ihn. »Du stellst dich hier hin und siehst dir die Leichen an. Du bekommst Licht und Bücher, so viel, wie du brauchst. Du untersuchst sie und sagst mir, was du herausgefunden hast. Keine Ahnung:Woran der Tote gestorben ist, ob er in seiner neuen Welt glücklich ist, ob er etwas benötigt … Du kannst es dir ausdenken. Und ich erzähle es den Angehörigen, damit sie uns bezahlen. Schon sind alle zufrieden.«
»Das kann ich nicht tun.« Entgeistert blickte Ci ihn an.
»Wieso nicht? Gestern habe ich miterlebt, wie du es getan hast. Dass der Mann nicht durch den Sturz vom Pferd gestorben ist, sondern erwürgt wurde … Das war brillant! Ich bringe die Geschichte in Umlauf, und die Kunden werden herbeiströmen wie Ameisen.«
Ci schüttelte den Kopf.
»Ich bin kein Scharlatan, tut mir leid. Ich errate keine Dinge, manchmal gibt es vielleicht Indizien, Hinweise … Spuren an den Leichen.«
»Indizien … Hinweise … Es spielt keine Rolle, wie du es nennst. Tatsache ist, dass du Dinge herausfindest. Und das ist Gold wert. Denn was du gestern gesagt hast … Du könntest es wiederholen, nicht wahr?«
»Ich könnte Dinge herausfinden, ja.«
»Also, abgemacht!« Der Alte grinste.
Sie setzten sich an einen Sarg, um das von Xu mitgebrachte Frühstück zu verspeisen. Auf die improvisierte Tischplatte stellte der Wahrsager bunte Tellerchen mit Krabben aus Longjing, Schmetterlingssuppe, süßsaurem Karpfen und Tofu mit Fisch. Seit dem Tag, als Richter Feng sie im Dorf besuchte, hatten Ci und seine Schwester nicht so fürstlich gegessen.
»Ich habe meiner Frau gesagt, sie soll uns was Gutes machen. Das muss gefeiert werden!«, sagte Xu, während er die Suppe schlürfte.
Ci leckte seine Finger ab und bemerkte, dass Xu die Verbrennungen an seinen Händen
Weitere Kostenlose Bücher