Der Totenleser
schluckte. Dann wandte er sich wieder dem Toten zu und setzte die Untersuchung fort. Der Hals war unverletzt, doch als er das Tuch, das den Oberkörper bedeckte, zurückzog, sah er, dass Myriaden von Würmern auf den Eingeweiden herumwimmelten,die auf der rechten Seite freilagen. Ein fürchterlicher Gestank schnürte seine Kehle zu und kroch in seinen Magen, bis der Brechreiz übermächtig wurde. Xu eilte ihm zu Hilfe. Als er wieder zu sich kam, bat er um zwei mit Hanföl getränkte Baumwolltücher, die er, sobald er sie in der Hand hielt, in seine Nasenlöcher steckte. Der Geruch verschwand wie durch Zauberei. Anschließend beauftragte er Xu, für den Körper ein Loch ausheben zu lassen.
»Der Mann war Buddhist. Sie wollen ihn verbrennen«, wandte Xu ein.
Ci erklärte ihm, dass er das Loch brauche, um den Körper zu erhitzen. Das war etwas, das er Feng bei unzähligen Gelegenheitenhatte tun sehen, vor allem jedoch etwas, das ihnen Zeit verschaffen würde. Während mehrere Mönche gruben, nahm Ci eine gründlichere Untersuchung des Leichnams vor. Um seinem Auftritt mehr Gewicht zu verleihen, bat er die Angehörigen zurückzutreten.
»Mit Erlaubnis des erstgeborenen Sohnes stelle ich fest: Wir haben hier einen ehrenwerten etwa sechzigjährigen Mann von mittlerer Größe, durchschnittlichem Körperbau und einer für sein Alter normalen Konstitution vor uns. Der Körper weist weder Narben auf noch Anzeichen, die auf eine schwere oder tödliche Krankheit schließen lassen würden.« Er blickte in die Runde. »Seine Haut ist weich und lässt sich eindrücken, und sie löst sich, wenn man kräftig zieht. Er hat schütteres graues Haar, das beim Ziehen ebenfalls leicht nachgibt. Am Kopf und im Gesicht weist der Tote zahlreiche Prellungen auf, die zweifellos auf die Einwirkung eines stumpfen Gegenstandes zurückzuführen sind.«
Beim Anblick der Lippen des Ermordeten hielt er inne. Er prägte sich ein bestimmtes Detail ein und fuhr fort.
»Der Oberkörper ist zerschunden, wahrscheinlich weil er über den Boden geschleift wurde. Der Bauch …« Ci versuchte seinen Ekel zu unterdrücken. »Auf dem Bauch ist eine Schnittwunde zu erkennen, die vom unteren Ende des linken Lungenflügels bis zur rechten Leiste verläuft und einen großen Teil der inneren Organe freilegt.« Er machte eine Pause, um den neuerlichen Brechreiz zu überwinden. »Die Därme sind von Flüssigkeiten aufgebläht, doch nicht so der Magen. Das Geschlechtsteil des Toten ist unauffällig. Die Beine weisen keinerlei Schrammen auf …«
Ci ließ seinen Blick durch die kleine Versammlung schweifen. Fanden sie seine Informationen zufriedenstellend? Sie verhielten sich abwartend, als rechneten sie angesichtsdes langen Schauspiels nun mit einer überraschenden Auflösung.
In was für einen Schlamassel hast du mich da bloß geritten, Xu?, dachte Ci, der Verzweiflung nahe.
Er forderte den Wahrsager auf, das Graben zu unterbrechen und ihm beim Wenden des Leichnams zu helfen. Leider lieferte die Rückseite des Toten kaum neue Daten, mit denen er seine Theorie hätte vervollständigen können, weshalb er den Körper wieder zudeckte und seine Ergebnisse aufzulisten begann.
»Es scheint, dass dieser Mann an dem gewaltigen Schnitt gestorben ist, der seinen Leib geöffnet hat. Die Wunde führte zum Austreten der Eingeweide, was wiederum …«
»Wir haben nicht dafür bezahlt, dass du uns erzählst, was selbst ein Blinder erraten könnte!«, unterbrach ihn einer der Söhne des Ermordeten und gab einem hoch aufgeschossenen jungen Burschen mit einer hässlichen Narbe im Gesicht einen Wink.
Wortlos trat der Kerl hinter Xu, packte ihn an den Haaren und hielt ihm seinen Dolch an die Kehle. Der Sohn, der sich zu Wort gemeldet hatte, zündete eine winzige Kerze an und stellte sie neben Ci.
»Ihr habt noch Zeit, bis die Flamme erlischt. Wenn ihr den Namen des Mörders bis dahin nicht genannt habt, werdet ihr es bereuen.«
Ci überlief ein kalter Schauer. Er wusste doch noch nicht einmal, welche Todesursache vorlag! Auf der Suche nach einer Antwort sah er Xu flehend an, aber der erwiderte seinen Blick nicht. Schwach flackernd brannte die Kerze langsam, aber unausweichlich herunter.
Xu half, die Grube fertig auszuheben. Ci ordnete an, glühende Kohlen aus der Küche herbeizuschaffen und hineinzufüllen.Als die Glut verloschen war, legte er eine Matte darüber, begoss sie mit Essig und ließ den Leichnam darauf betten. Behutsam bedeckte er den Toten mit dem Tuch und
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