Der Totenleser
wartete ab.
Im Luftzug flackerte die Kerze gefährlich. Ci spürte sein Herz bis zum Hals schlagen. Er überdachte seine Möglichkeiten. Allenfalls konnte er eine Vermutung über die Todesursache wagen, aber vom Namen des Täters trennte ihn ein unüberwindlicher Abgrund. Und natürlich wusste er nicht, ob eine solche Antwort ausreichte, um den Zorn dieser Männer zu besänftigen. Mit scheinbarer Ruhe nahm er das Tuch von der Leiche und machte ein feierliches Gesicht. Dann untersuchte er die Fußknöchel.
»Wie ich schon sagte, mutmaßt jeder Betrachter sofort, dass der Mann an den Folgen eines brutalen Schnittes gestorben ist«, sein Blick wanderte von einem zum anderen, »doch diese Offensichtlichkeit beweist nur die Heimtücke und Verderbtheit seines Mörders.« Cis Finger strichen über die Knöchel des Toten. »Ein schlauer Kerl, kaltblütig und furchterregend, der nicht nur genug Zeit hatte, das Verbrechen auszuführen, sondern der danach noch die Leiche manipulierte, um uns den tatsächlichen Tathergang zu verschleiern.«
Die Anwesenden hörten aufmerksam zu. Ci aber hatte bloß Augen für das Flackern der Kerze, die viel zu schnell dahinschwand. Er versuchte, den Blick davon zu lösen und sich auf seinen Vortrag zu konzentrieren.
»Soweit ich euch verstanden habe, wurde euer Vater am Abend seiner Ermordung von vertrauenswürdigen Leuten bewacht. Diese Tatsache schließt eine mögliche Verschwörung aus und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen einzigen Verantwortlichen, einen grausamen und gewalttätigen Menschen, feige wie ein Schakal.«
»Die Zeit läuft«, erinnerte ihn der Narbengesichtige, der Xu bedrohte.
Ci sah nach der Kerze. Er presste die Kiefer aufeinander und näherte sich dem Burschen mit dem Dolch.
»Dieser Mann wurde nicht erstochen. Das beweist die Haut, die den Schnitt umgibt.« Er zeigte darauf. »Wenn ihr sie genau betrachtet, werdet ihr feststellen, dass die Würmer die Ränder der Wunde gemieden haben, einer Wunde, aus der zu dem Zeitpunkt, da sie ihm zugefügt wurde, kein Blut ausgetreten ist. Sie blutete nicht, weil der arme Mann schon seit Stunden tot war, als man ihn aufschlitzte.«
Ein Raunen ging durch die Versammelten.
Ci fuhr fort: »Ebenso wenig ist er ertrunken, wie die Tatsache beweist, dass sein Magen sich eindrücken lässt und sich weder in seinen Nasenlöchern noch in seinem Mund, und auch nicht an Zähnen oder Zunge, irgendwelche Reste von Pflanzen und Insekten oder anderem für Brunnenlöcher typischen Schmutz finden, die er mit Sicherheit geschluckt hätte, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Deshalb ist die einzige mögliche Antwort, dass er bereits tot war, als er in den Brunnen geworfen wurde.« Er drehte sich zu den Angehörigen um. »Was uns schließlich zur Frage nach der Art seiner Ermordung führt.«
»Wenn er weder erstochen noch ertränkt wurde, wie zum Henker ist er dann gestorben?«, fragte der Sohn.
Ci wusste, dass Xus Leben wie auch sein eigenes von den Worten abhing, die er nun sprechen würde. Deshalb wählte er sie mit größter Vorsicht.
»Euer Vater starb auf schreckliche Weise, ganz langsam. Er konnte nicht sprechen, keine Hilfe herbeirufen, konnte nur mehr röcheln … Er wurde vergiftet.« Empörtes Getuschel breitete sich unter den Versammelten aus. »Das bestätigenuns seine zusammengekrallten Finger und die geschwärzten Lippen. Seine dunkel verfärbte Zunge zeugt von Zinnober, dem tödlichen Elixier der Taoisten, dem Mittel der verblendeten Giftmischer.« Ci machte eine Pause und sah, dass die Kerze jeden Moment verlöschen würde. »Als er tot war«, fuhr er fort, »wurde euer Vater an den Knöcheln gepackt, im Schutz der Dunkelheit auf dem Bauch bis zum Brunnen seines Gartens geschleift und schmählich hineingeworfen. Doch mit der Tat noch nicht zufrieden, hatte der Mörder genug Zeit, den Leib des Toten aufzuschlitzen und sein Gesicht zu verunstalten, einzig und allein, um die wahre Todesursache zu verbergen.«
»Wie kannst du das wissen?«, warf einer der Anwesenden dazwischen.
Ci ließ sich nicht einschüchtern.
»Die vom Essigdampf freigelegten Abdrücke lassen keinen Zweifel zu.« Ci wies auf die Knöchel. »Daher weiß ich, dass er auf dem Bauch geschleift wurde, noch im letzten Todeskampf, wie seine Fingernägel bezeugen, die abbrachen, während er sich ans Leben zu klammern versuchte.« Er zeigte die Erde unter den Nägeln, er war davon überzeugt, dass sie mit der im Garten übereinstimmte.
Ci sah die Kerze ausgehen.
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