Der Totenleser
ausgeprägten Wangenknochen hervor sowie den dünnen, ungepflegten Schnurrbart und den kräftigen Unterkiefer. Dann widmete er sich dem gewaltigen Schnitt, der den Hals des Toten vom Kehlkopf bis zum rechten Ohr zerteilte. Er untersuchte die inneren Kanten der Schnittwunde und maß mit Hilfe eines Hölzchens ihre Tiefe. Hochzufrieden hielt er die Ergebnisse fest.
Anschließend zählte der Student elf Messerstiche im Brustbereich. Nachdem er sie mit den Fingern betastet hatte, machte er sich abermals Notizen. Dann besah er sich die Leisten des Toten, sein Geschlechtsteil, und als Letztes untersuchte er die kräftigen Oberschenkel und die runden, unbehaarten Waden.
Mit Cis Hilfe drehte er die Leiche in Bauchlage. Bis auf die Blutspuren, die beim Waschen des Toten entstanden waren,wirkte der Rücken sauber und unversehrt. Der Grauhaarige ließ noch einmal seinen Blick über den Toten gleiten und trat dann zur Seite.
»Und?«, fragte der Professor erwartungsvoll.
Der Student ließ sich Zeit mit seiner Antwort, zweifellos genoss er seinen Auftritt. Ci zog eine Augenbraue hoch und lauschte.
»Es ist offensichtlich, dass wir es hier mit einem besonderen Fall zu tun haben«, fing der Grauhaarige an. »Ein junger, außerordentlich kräftiger und robuster Mann, niedergestochen und mit aufgeschlitzter Kehle. Ein in seiner Grausamkeit erschreckender Mord, der uns an einen erbitterten Kampf denken lässt.«
Jetzt war es Ci, der ein Gähnen nicht unterdrücken konnte. Xu warf ihm einen tadelnden Blick zu.
Der Meister bestärkte den großgewachsenen Studenten darin, mit seinem Vortrag fortzufahren.
»Wir können zunächst davon ausgehen, dass es sich um eine Überzahl von Tätern gehandelt hat, etwas Unabweisbares angesichts der Konstitution des Toten – um einen solchen Hünen in die Knie zu zwingen, waren unbedingt mehrere Männer erforderlich. Bei der Auseinandersetzung bekam der Tote zahlreiche Messerstiche ab, trotzdem kämpfte er weiter, bis es einem Angreifer gelang, ihn mit dem Schnitt in die Kehle tödlich zu verletzen. Dieser Schnitt durch den Hals ließ den Hünen zusammenbrechen, wobei er mit der Stirn aufschlug und sich diese merkwürdige rechtwinklige Wunde zuzog, die uns so beeindruckt hat.« Er machte eine übertrieben lange Pause, um die Erwartung zu schüren. »Das Mordmotiv? Vielleicht sollten wir verschiedene Motive in Erwägung ziehen. Von den Folgen einer einfachen Angeberei in einem Wirtshaus über eine nicht bezahlte Schuld oder einenaufgestauten alten Groll bis hin zu einem ernsthaften Streit wegen einer schönen Blume … Alles ist denkbar, allerdings weniger wahrscheinlich als ein schlichter Raubüberfall. Diese Schlussfolgerung legt der Umstand nahe, dass der Tote keinerlei Wertsachen bei sich trug. Auch nicht«, er blickte in seine Notizen, »die Armreifen, die er an dieser Hand getragen haben muss.« Er wies auf einen hellen Streifen am Handgelenk. »Wenn also Anzeige erstattet werden sollte, täte der zuständige Richter gut daran, eine sofortige Durchsuchung der Umgebung des Fundortes anzuordnen. Ich selbst würde mich auf die Wirtshäuser konzentrieren und vor allem auf verwundete Raufbolde achten, die unverhältnismäßig viel Geld ausgeben.« Der Grauhaarige faltete seine Notizen zusammen, deckte den Leichnam zu und blickte die Anwesenden beifallheischend an.
In diesem Moment erinnerte Ci sich an Xus Bemerkung über Schmeicheleien und Trinkgelder und trat auf den Studenten zu, um ihn zu beglückwünschen. Der aber verjagte ihn, als hätte sich ihm ein Leprakranker genähert.
»Blöder Wichtigtuer«, knurrte Ci.
»Wie kannst du es wagen?« Der Student packte ihn am Arm.
Ci riss sich mit einem Ruck los, spannte die Muskeln, die er seiner Arbeit als Totengräber verdankte, und sah ihn herausfordernd an. Gerade wollte er ihm antworten, da mischte sich der Professor ein.
»Der Herr Zauberer meint also, wir würden uns hier wichtigmachen …« Doch plötzlich hielt er verwirrt inne. Er fragte Ci, ob sie sich schon einmal begegnet seien.
»Ich glaube nicht, mein Herr. Ich bin erst seit kurzem in der Stadt«, log er. Aber noch während er den Satz aussprach, erkannte Ci in Professor Ming den Mann wieder, dem er aufdem Büchermarkt von Lin’an das Songxingtong seines Vaters hatte verkaufen wollen.
»Wirklich?« Verwundert schüttelte er den Kopf. »Jedenfalls, denke ich, solltest du dich bei Grauer Fuchs entschuldigen.« Er zeigte auf den langen Studenten mit dem grauen Haar, der nervös
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