Der totgeglaubte Gott
Priester und Propheten dazu etwas zu sagen hatten. Schließlich boten die modernen Naturwissenschaften keinen Anlass für einen Zweifel, dass Gott seinen Willen durch die Schriften kundgetan hatte, dass er selbst dem Papst und den christlichen Königen und Fürsten die Macht verliehen hatte, über den gefallenen Menschen, der die Erde bevölkerte, zu herrschen. Dass die Herrscher und ihre theologischen Apologeten in puncto Physik unrecht hatten, war ja kein Beweis, dass ihre Legitimation von Herrschaft ebenfalls unhaltbar war. Dass die göttliche Offenbarung im Hinblick auf die Politik noch Gültigkeit besaß, blieb immerhin im Bereich des Möglichen.
Der religiöse Mensch I
Die politische Theologie der Bibel ist theozentrisch. Sie beginnt mit Gott, seinem Wort und vor allem mit seiner Allmacht. Und sie geht davon aus, dass wir den Menschen und das Leben, das er führen sollte, umso besser begreifen, je tiefer unser Einblick in Gottes Offenbarung ist. Dieses Verständnis kann durch die Lektüre der Schriften und die Interpretation der Offenbarung erlangt werden. Es kann sich durch das Studium des Kosmos ebenso einstellen wie durch eine innere Erleuchtungserfahrung. Doch woher es auch kommen mag, das Wissen um Gott ist die Voraussetzung sine qua non für das richtige Leben, ob nun auf individueller oder kollektiver Ebene. Es gibt kein genuines Wissen des Menschen, so es nicht von Gott ist. Das lehrt uns die Bibel.
Und die Bibel hat uns in puncto menschliches Verhalten viel zu sagen. Über einen Aspekt allerdings schweigt sie sich aus, und das ist gerade die Religion. Über den Ursprung menschlicher Religiosität findet sich in der Bibel kein Wort. Diese Behauptung mag vielleicht ein wenig exzentrisch klingen, doch sehen wir uns das Ganze doch mal genauer an. Das Alte Testament beschreibt den Bund mit Gott und seine Gesetze. Es legt Zeremonien, Rituale und Feiertage fest. Es erzählt vom Glauben und vom Mangel an Glauben, von Gottes Volk in der Geschichte. Es warnt vor Strafe und verspricht Belohnung. Das Neue Testament berichtet von Menschen, die alles stehen und liegen ließen, um mit Jesus zu ziehen, Menschen, die seinem Beispiel folgen wollten. Und berichtet von jenen, die ihn verraten haben, von Judas und von Simon Petrus, der schwach wurde, ehe der Hahn krähte. Jesus lehrt seine Jünger, wie sie beten sollen, und sie tun es. Die Bibel fragt nicht nach dem Warum ihres Tuns, genauso wenig wie sie fragt, warum Abraham auf Gott vertraute und Isaak beinahe opferte. Tatsächlich wird dort nicht eine der Fragen gestellt, die wir heute für normal halten, wenn wir uns mit Religion beschäftigen. Warum ist der Mensch religiös? Welche Rolle spielt die Religion in der menschlichen Gesellschaft? Welche Formen religiöser Erfahrung gibt es überhaupt? Wie haben sie sich im Laufe der Zeit und in den verschiedenen Zivilisationen entwickelt? Wir nehmen an, dass wir vom Menschen umso mehr begreifen, je besser wir das Phänomen der Religiosität verstehen. Die Bibel kennt diese Annahme nicht.
In der Moderne stellen wir uns diese Fragen über religiöse Empfindungen und Praktiken, auch wenn sie nicht neu sind. Die Philosophen des alten Griechenland und des alten Rom waren die Ersten, die sich dem Problem systematisch näherten und widerstreitende Theorien über Religion als menschliches Phänomen entwickelten. Ob sie nun selbst an die Götter glaubten oder nicht, sie hielten es jedenfalls für möglich, jenes soziale Faktum zu erforschen, das man später als »Naturreligion« bezeichnete. Sie fragten sich, woher die Vielzahl religiöser Praktiken in den kulturellen Zentren des Altertums rührte, wie diese sich im Laufe der Zeit verändert hatten und wie sie im Zusammenhang mit politischer Machtausübung genutzt wurden. Und natürlich wollten sie auch wissen, was am Menschen solch ein Phänomen überhaupt erst möglich machte.
Es gab mehrere Ansätze zur Beantwortung dieser Frage. Aristoteles meinte z. B., die Religion entstehe aus der Fähigkeit zum Staunen und äußere sich im Mythos. Die Epikureer sahen die Quelle der Religion hingegen in Unwissenheit und Furcht vor Leid. In ihr drücke sich die Hoffnung aus, bei den Göttern Schutz zu finden. Die Euhemeristen führten an, dass viele Völker ihre Helden zu Göttern machten. Daher sei es nur wahrscheinlich anzunehmen, dass alle Götter irgendwann einmal höchst menschliche Helden gewesen seien. Die Stoiker wiesen darauf hin, dass Unwissenheit und Furcht zwar eine gewisse
Weitere Kostenlose Bücher