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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Lilla
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davon ist zweifellos der Verfall des christlichen »Weltbilds«, das durch ein neues ersetzt wurde, das dem modernen politischen Denken angeblich eher entsprach. Am Anfang steht die unbestrittene Tatsache, dass die christliche Kosmologie unter dem Ansturm der modernen Naturwissenschaft zusammenbrach. Plötzlich war es unmöglich geworden, Gott und Mensch direkt durch das Medium der Natur zu verbinden. Aber kann man denn tatsächlich behaupten, unser politisches Denken hänge von einem kosmologischen Weltbild ab, auch wenn dies jetzt ein neues ist?
    Die christliche Vorstellung vom Kosmos war seit jeher Flickwerk. Im Mittelalter wurde sie aus biblischen Quellen, den Spekulationen in Platons Timaios , den systematischen Abhandlungen des Aristoteles (gefiltert durch muslimische Kommentatoren) und den astronomischen Erkenntnissen des Ptolemaios zusammenmontiert. Es ist ohnehin rätselhaft, weshalb man sie überhaupt schuf. In der hebräischen Bibel finden sich keine systematischen Spekulationen über die Natur des Kosmos. Die Schrift geht davon aus, dass die Natur gut geschaffen wurde, dass sie uns aber nichts über ein gutes Leben zu lehren habe. Die Tora ist vollkommen, an ihr kann nichts fehlen. Das Neue Testament der Christen nähert sich der Natur auf einem vergleichbaren Weg: Sie ist da, sie ist gut, aber sie ist nicht die Gnade. Eine ganze Reihe jüdischer und christlicher Denker der Spätantike aber unternahm den Versuch, die Lehren der Heiligen Schrift mit den kosmologischen Spekulationen der alten Griechen in Einklang zu bringen, für die Kosmologie und Ethik untrennbar zusammenhingen. Dieser Versuch stellte sich als folgenschwer heraus, vor allem für das christliche Denken, wo jede neue ethische Entwicklung direkte Auswirkungen auf die politische Führung der Christenheit hatte. Der christliche Neoplatonismus und die Synthese von aristotelischem Denken und christlicher Offenbarung, die der Heilige Thomas von Aquin vornahm, stellten eindrückliche Analogien zwischen der kosmischen und der politischen Weltordnung her. Und so war es nicht verwunderlich, dass im späten Mittelalter die Kirche selbst die Naturtheologie und die politische Theologie als zwei Disziplinen betrachtete, die sich gegenseitig unterstützten.
    Die Naturwissenschaften, die sich im späten 15. Jahrhundert zu entwickeln begannen, stellten für die christliche Naturtheologie und implizit auch für die christliche politische Theologie eine ernsthafte Herausforderung dar. Sie zeigten auf, dass das mittelalterliche Denkmodell den Kosmos in all seiner Komplexität und Größe nicht zu fassen vermochte. In bemerkenswert kurzer Zeit brach das alte christliche Weltbild zusammen. Die Naturtheologen des Mittelalters gingen davon aus, dass das Universum einzigartig und abgeschlossen sei und die Erde in seiner Mitte stünde. Galileos Teleskop und Leeuwenhoeks Mikroskop aber zeigten, dass das Universum eher den russischen Matroschka-Puppen gleicht. Plötzlich hatte man es mit einem mittelpunktslosen Bereich zu tun, in dem die Materie sich gleichermaßen tief in den unendlichen Kosmos wie in die mikroskopische Welt erstreckte. Für die Naturtheologie war der biblische Bericht über die Entstehung der Welt annähernd exakt, doch neue geologische und biologische Erkenntnisse ließen Zweifel an dieser Sicht aufkommen. Es gab einfach viel zu viele Fossile von unbekannten Arten und zu viele menschliche Überreste aus alter Zeit. Hatte es also schon vor Adam und Eva Menschen und Riesen gegeben? Die Zweifel an der biblischen Chronologie verstärkten sich noch, wenn Reisende aus fernen Ländern wie China zurückkamen. Die weit zurückreichenden historischen Aufzeichnungen solcher Kulturen zeigten, dass es durchaus Zivilisationen gegeben haben mochte, die älter waren als die in der Bibel erwähnten. Im Licht dieser Erkenntnisse aber wirkte die Chronologie der Bibel plötzlich ebenso wenig verlässlich wie die Kosmologie heidnischer Völker.
    Die moderne Ideengeschichte hat die Auswirkungen des neuen kosmologischen Weltbildes auf die christliche Naturtheologie und deren letztliche Widerlegung eingehend untersucht. Doch die neuen wissenschaftlichen Methoden, die jene Entdeckungen überhaupt erst möglich machten, entfalten auf psychologischer Ebene eine noch größere Wirkung. Die Naturtheologie verdankte ihre zentrale Rolle im christlichen Denken schließlich der Grundannahme, dass »das Ganze« in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden konnte, sodass sich

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