Der totgeglaubte Gott
daraus eine christliche Ethik ableiten ließ. Doch die neuen Entdeckungen und Erkenntnisse ließen Zweifel daran aufkommen, ob man überhaupt ethische Prinzipien aus der Natur ableiten könne, ganz egal, wie man sie auffasste. Ein Kosmos, der so alt und so komplex war, konnte doch kaum »auf den Menschen hin« geschaffen worden sein, sozusagen als ethisches Experiment vonseiten Gottes. Dieser Kosmos schien dem Menschen gleichgültig gegenüberzustehen und auf vollkommen neutrale Weise zu funktionieren. Das war der eigentliche Schock. Obwohl die »Naturtheologie« noch bis ins 19. Jahrhundert hinein produktiv blieb, gab es doch keinen modernen Timaios , in dem »das Ganze« erklärt wurde, die Entstehung des Kosmos und seiner Gesetze und der Platz des Menschen darin. Diese allgemein verbreitete Ansicht drückt sich in David Humes Worten aus, der schreibt: »Das Ganze ist ein Rätsel, ein Änigma, ein unerklärliches Geheimnis.« 12 Und der einzige Weg, mit solchen Mysterien umzugehen, meint die moderne Wissenschaft, sei die Hypothese und das Experiment, nicht das Dogma. Die moderne Wissenschaft ist ihrem Wesen nach unbeständig, weil der Kosmos viel zu komplex ist, als dass wir uns von ihm jemals ein gültiges letztendliches Bild machen, geschweige denn ethische Prinzipien daraus ableiten könnten. Das bedeutet nun nicht, dass die Natur als solche uns nichts über die menschliche Natur lehren könnte, über die Bedürfnisse und Triebe, die wir mit dem Tierreich teilen. Aber in der modernen Physik geht es nicht mehr um Ethik.
Der Zusammenbruch des mittelalterlichen Weltbildes war also gleichbedeutend mit dem Ende der christlichen Naturtheologie. Doch war damit auch das Ende der christlichen politischen Theologie gekommen? Dies hing letztlich ganz davon ab, ob sich neue Wege finden ließen, den göttlichen Nexus zu definieren. Wege, die zwar die Erkenntnisse moderner Wissenschaft integrierten, aber trotzdem zur alten christlichen Ordnung führten.
Natürlich gab es genug Anstrengungen in dieser Richtung. Sie setzten etwa im 17. Jahrhundert ein. So entstand bspw. das Bild vom göttlichen Uhrmacher, einem höheren Wesen, das die komplizierte Mechanik der Welt erschaffen habe und sich jetzt zurücklehne und seinem Glockenspiel bei der Arbeit zusehe. Dieser edle Gott ließ sich nicht herab, irgendwelche kindischen Wunder zu vollbringen, welche die Naturgesetze außer Kraft setzten. Er wirkte vielmehr durch die prästabilierte Harmonie dieser Gesetze – einer komplexen Harmonie, die im flüchtigen Bösen dieser Welt für das ungeschulte Auge nicht immer sichtbar war, doch für all jene, die die Formeln der harmonischen Welt beherrschten, deutlich zutage trat. Denn eben diese Formeln boten ein Modell für das menschliche Leben. Sie waren rational, elegant, effizient. Das Gute musste also darin bestehen, ebenso rational zu sein. Die wahre imitatio Dei liege in der Vernunft begründet, nicht im blinden Glauben. Das 17. Jahrhundert war die Blütezeit dieser modernen rationalen Theologie in Europa, die in den Händen von Philosophen wie Leibniz zur Theodizee ausgearbeitet wurde. Für sie war klar: Je besser man die Gesetze versteht, die den Kosmos beherrschen, desto mehr begreift man, weshalb die Welt so sein muss, wie sie ist, weil sie angesichts der Natur Gottes notwendigerweise gut ist. Der mittelalterliche Christ glaubte voller Demut, der gefallene Mensch würde gerechtfertigt durch Gottes Gnade, die sein Sohn Jesus Christus bringen würde. Die rationalen Theologen aber nahmen es auf sich, Gott höchstselbst zu rechtfertigen – da er angesichts der Erkenntnisse moderner Wissenschaft offensichtlich einer Rechtfertigung bedurfte.
Doch war der Gott der Philosophen wirklich ein christlicher Gott, der Gott der Bibel, der Gott Abrahams und des heiligen Paulus? Zumindest die Kirche des 17. Jahrhunderts verneinte dies. Und sie stand damit nicht allein da. Sogar Blaise Pascal, der zweifellos größte Mathematiker seiner Zeit, betrachtete den Gott der Rationaltheologen als Götzen, als Fetisch der Rechenknechte. Er – und seine Jansenistenbrüder sowie die protestantischen Theologen – suchten vielmehr Unterstützung in den Schriften des heiligen Augustinus. Und Pascal tat dies, ohne die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft zurückzuweisen. Ganz im Gegenteil, Pascal sah die wissenschaftliche Revolution als Befreiung Gottes aus den Ketten der Naturtheologie. Oder wie er in seinen Gedanken schreibt: »[…] und daher muss
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