Der totgeglaubte Gott
die Moralvorstellungen des Aristoteles und sah christliche Religiosität als moralische Tugend, die den Mittelweg zwischen Aberglaube und Gottlosigkeit darstelle. Die Ausübung der Religion sei nicht der Weg zum Heil, lehrte er. Sie könne die Gnade nicht ersetzen. Doch sie biete moralische Unterstützung für all jene, die zwar glauben, aber Hilfe brauchen, um nicht erneut in Unglauben zu verfallen.
Der religiöse Mensch II
Das Nachdenken über die Religiosität des Menschen war in der mittelalterlichen Theologie weit verbreitet, doch es war stets dem Nachdenken über Gott unterworfen. Während diese Auffassung Europa beherrschte, war die antike Fragestellung in Bezug auf das Phänomen der Religion vollkommen tabu. Das änderte sich erst wieder in der Renaissance, als man anfing, die Werke Platons in neuem Licht zu lesen, und Denker wie Machiavelli die Religion als politisches Phänomen zu betrachten begannen, das man entweder gut oder schlecht nutzen konnte. Der Reformator Calvin meinte, der Mensch besitze ein natürliches Gewahrsein Gottes ( sensus divinatis ), das Gott in ihm angelegt habe. Doch dieses Gewahrsein sei von Sünde verdunkelt. Erst im 17. Jahrhundert, als der Stoizismus und der Epikureismus erneut Zulauf fanden, entstand im westlichen Denken, auch in seiner politischen Stoßrichtung, eine Anthropologie der Religion.
Der Stoizismus war vor allem bei den gebildeten Schichten beliebt, die eine Alternative zur christlichen Anthropologie suchten. Die modernen Stoiker setzten mit ihrem Weltbild nämlich nicht beim christlichen Gott an, sondern beim Menschen, der von Gott unabhängigen »Naturgesetzen« unterworfen sei. Ob die Idee moderner Stoiker von der Naturgesetzlichkeit sich von der ihrer antiken Vorgänger unterscheidet, soll hier nicht untersucht werden. Es war auf jeden Fall ein Schlag ins Gesicht der christlichen Denker, die seit dem heiligen Thomas von Aquin die Gesetzmäßigkeiten der Natur von Gottes »ewigem Gesetz« abgeleitet hatten. Die modernen Stoiker jedenfalls klammerten Gottes Recht sozusagen aus und begannen, eingehend die Natur in all ihrer Vielfalt zu beobachten. Wie die Gesetzmäßigkeiten der Natur das Verhalten von Tieren bestimmten, ob sie nun allein oder in Gruppen lebten, so schienen solche Gesetze auch das menschliche Leben zu bestimmen. Und sie konnten anscheinend durch Vergleich der Gepflogenheiten verschiedener Zivilisationen erkannt werden. Menschliche Zivilisationen ähneln sich in mancher Hinsicht, unterscheiden sich aber in anderer. Diese Unterschiede konnten zum Objekt systematischer Studien gemacht werden. Das menschliche Verhalten ließ sich also unabhängig von theologischen Annahmen und Querelen wissenschaftlich untersuchen. Was Naturgesetz war, ließ sich also feststellen, auch wenn es – wie Hugo Grotius dies fast ketzerisch formulierte 16 – Gott vielleicht nicht geben sollte, was »nicht ohne die abgrundtiefste Bosheit« in Betracht gezogen werden kann.
Den Menschen aus dieser Perspektive zu betrachten, ist sehr aufschlussreich. So tritt z. B. klar zutage, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, dass er nicht allein existiert. Wo immer es Menschen gibt, leben sie in Gruppen zusammen und haben ein angeborenes Gespür für den anderen. Er verteidigt sich, wenn er angegriffen wird, doch sein natürlicher Instinkt bewegt ihn zur Kooperation. Der Mensch genießt die Gesellschaft anderer Menschen und strebt danach – aus wirtschaftlichen Gründen ebenso wie zum Vergnügen. Die Grundvoraussetzungen für unser Gedeihen liegen also auf der Hand: Frieden, Überfluss und Freiheit. Der Mensch tut gut daran, seinen Mitmenschen mit Respekt zu behandeln. Wenn man andere ausnützt oder sie mit Grausamkeit behandelt, stört man den Frieden. Unweigerlich fällt ein solches Verhalten auf den Verursacher zurück. Auf der Grundlage dieses Gedankens entwickelt die moderne Stoa eine Ethik des menschlichen Verhaltens und des politischen Lebens, die zu diesen Naturgesetzen passt – und Gottes Autorität nicht nötig hat.
Und doch gehört es offensichtlich zum »natürlichen« Verhalten des Menschen, an Gott zu glauben. Wo immer es menschliche Zivilisation gibt, finden wir eine Form der Religion. Doch warum? Die modernen und die antiken Stoiker gingen davon aus, dass sich im universellen Auftreten religiöser Strukturen sehr wohl einige grundlegende Wahrheiten ausdrücken, wie verschieden diese sich in den einzelnen Religionen auch darstellen mögen. Der klügste Kopf der
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