Der totgeglaubte Gott
eine Staatsreligion einzuführen, deren Oberhaupt ein absoluter Herrscher ist, sondern die menschliche Neugier produktiveren Zwecken zuzuführen, damit sie nicht mehr bei metaphysischen Fragen stehen bleibe. Der Mensch solle innerhalb der bequemen Grenzen des gesunden Menschenverstands einfach leben lernen.
Obwohl Locke und Hume nicht übereinstimmen, was die Darstellung unserer menschlichen Fähigkeiten angeht, so ist ihre Sicht der Dinge, was die Entstehung der Religion und ihre prophylaktische Kontrolle betrifft, doch ziemlich ähnlich. Als junger Mann hatte Locke sogar wie Hobbes geglaubt, nur ein anerkannter, vom Staat kontrollierter Glaube, der für alle gelte, könne die perverse Dynamik des religiösen Eifers kontrollieren. Als Endzwanziger schrieb er eine kurze Erste Abhandlung über die Regierung . Dort argumentiert er, der Souverän müsse notwendigerweise eine absolute Macht über die indifferenten Handlungen seines Volkes besitzen, womit er jeden Akt religiöser Anbetung bezeichnet. 26 In den nächsten zehn Jahren allerdings änderte er seine Meinung, da er langsam ein subtileres religionspsychologisches Verständnis entwickelte. Wenn Hobbes nämlich recht hatte und wir nie wissen können, was andere glauben und wie ihr Glauben auf ihr Handeln wirkt, dann könnte es auch sein, dass wir das, was wir selbst glauben, nicht unter Kontrolle haben. Ist dies der Fall, dann müssen wir aus praktischen – nicht prinzipiellen – Gründen anerkennen, dass Glaube nicht erzwungen werden kann. Wir haben keine Wahl: Wir müssen respektieren, was der andere glaubt. Locke erkannte darüber hinaus, wie sehr Menschen an ihrem Glauben hängen, sogar wenn es um Dinge geht, die uns auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen. Als Beispiel bringt er eine Geschichte aus einem Reisetagebuch. Es geht darin um eine Stadt in China, die sich nach langer Belagerung ihren Feinden ergab. Die Bürger übergaben dem Feind ihren Besitz, ja sogar ihre Familie. Als dieser aber befahl, sie sollten sich ihre Zöpfe abschneiden, brach eine Revolte aus. Die Bürger der Stadt leisteten Widerstand bis zum Tode. Solch eine Macht hat der Glaube, hat die Gewohnheit über den menschlichen Geist. Daher ist es unmöglich, Religion in einen privaten und einen öffentlichen Teil zu trennen, wie Hobbes dies tat. Schon die Unterdrückung minimaler Glaubensdifferenzen wird am Ende wie ein Schuss nach hinten losgehen. Wir hängen deshalb so sehr an unserem Glauben, weil wir es sind, die ihn glauben.
Für die von Hobbes geschickt diagnostizierte theologisch-politische Krankheit verschrieb er eine indirekte Therapie. Zunächst einmal trat er für religiöse Toleranz und die Abschaffung jeglicher Staatsreligion ein. Und damit stand er nicht allein da. Viele Deisten hatten dasselbe gefordert, auch Spinoza, der immerhin der Erste war, der bemerkte, dass man aus Hobbes’ neuer, entzauberter Sicht des politischen Lebens so etwas wie eine liberale Demokratie aufbauen konnte. Aber erst Lockes’ Brief über Toleranz (1689), der die theologischen, moralischen und rationalen Grundlagen dafür legte, übte in der aufklärerischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts einen massiven Einfluss aus. Es handelt sich dabei um ein Meisterstück der politischen Rhetorik, die sich um eine Reihe von Fragen entspinnt, die Locke nicht immer schlüssig beantwortet. So fragt er bspw., was uns annehmen lässt, dass ein Geistlicher besser als wir selbst den wahren Pfad zum Himmel kenne? Und wann sei jemand schon einmal durch Schmerz oder Zwang zum Gehorsam zu wahrem Glauben gekommen? Wenn wir zulassen, dass ein Mann eine Kuh in seiner Scheune schlachtet, was für einen Unterschied macht es dann, wenn er es in der Kirche tut? Und dort, wo die Vernunft nicht ausreicht, greift Locke zum Mittel des Spotts:
Nun aber, wenn ich mit äußerster Anstrengung auf dem Wege voranschreite, der gemäß der heiligen Geographie geradeaus nach Jerusalem führt, warum werde ich von anderen geschlagen und misshandelt, weil ich vielleicht keine hohen Stiefel trage, weil mein Haar nicht den richtigen Schnitt hat, weil ich vielleicht nicht auf die richtige Weise in Wasser getaucht bin, weil ich unterwegs Fleisch esse oder irgendeine andere Speise, die meinem Magen zuträglich ist, weil ich gewisse Abwege vermeide, die mir in Heidegestrüpp oder Abgründe zu führen scheinen, weil ich unter den verschiedenen Pfaden, die dieselbe Wegrichtung haben, den zu gehen wähle, der der geradeste und sauberste zu sein
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