Der totgeglaubte Gott
Leviathan führt er uns vor, wie wir Fragen über Gott umkehren können in Fragen zum menschlichen Verhalten. Wie wir das menschliche Verhalten auf psychische Zustände zurückführen und diese wiederum als Bewegungen von Gier, Unwissenheit und der materiellen Umwelt erkennen können.
Dass diese Reduktion möglich ist, heißt noch nicht, dass sie auch richtig ist. Wie wir gesehen haben, beruht Hobbes’ Annahme, dass Religion einzig im Menschen ihre Gründe habe, auf einem logischen Fehlschluss. Weder Hobbes noch wir können belegen, dass jene, die behaupten, im Besitz einer offenbarten Wahrheit zu sein, diese nicht tatsächlich von irgendeiner höheren Instanz erhalten haben. Doch allein, dass dieser reduktive Ansatz möglich war, drängte die christlichen Denker in die Defensive, und das reichte schon aus. Wurde nach Hobbes die Offenbarung als Legitimation politischer Manöver angeführt, mussten ihre Parteigänger erklären, wie diese Offenbarung den Knick in der Optik des menschlichen Geistes mit seinen Auffassungen, Konzepten, Vernünfteleien, Leidenschaften und Machtgelüsten vermeiden konnte. Allein diese Notwendigkeit erwies sich in der Folge als Bleigewicht am Fuß der Theokraten, Patriarchen, Könige von Gottes Gnaden und all der anderen Herrscher, die sich die Ideen aus der langen Tradition der christlich politischen Theologie zunutze machten. Hobbes gelang es zwar nicht, am Fundament der Offenbarung dieser Tradition zu rütteln, doch er trug dazu bei, ein Umfeld zu schaffen, in dem die daraus abgeleiteten Herrschaftsansprüche zumindest fragwürdig, wenn nicht gar bedeutungslos erschienen.
Sobald also diese neue Sicht der Dinge etabliert war, konnte Hobbes mit der Entwicklung jenes Gedankens beginnen, der sich für das Leben in einer liberal-demokratischen Ordnung als zentral erwiesen hat: der Kunst der intellektuellen Trennung. Die wissenschaftliche Revolution, deren Vorkämpfer er war, sollte jahrhundertealte Vorstellungen über den göttlichen Nexus aushebeln und an ihre Stelle ein komplexes, veränderliches Bild einer moralisch stummen Natur fernab von ihrem Schöpfer setzen. Im Gefolge dieses Umbruchs lernten wir, unsere Erforschung der Natur vom Denken über Gott und unsere Pflichten als Menschen zu trennen. (Wir lernten ebenfalls, uns darüber Gedanken zu machen, ob das wirklich richtig war, und tun das bis heute.) Hobbes trug ebenfalls dazu bei, den Offenbarungsanspruch von unserem Nachdenken über das politisch gute Leben zu trennen. Ob wir nun Hobbes’ wissenschaftliche »Erkenntnisse« – über die Funktion des Auges, des Geistes oder das Zusammenleben von Menschen – für gültig halten oder nicht, wir haben uns jedenfalls daran gewöhnt, das politische Leben einzig vom Menschen her zu denken.
Doch es gibt noch weitere Trennstriche, die das Hobbes’sche Denken im politischen Denken des Westens zieht, z. B. die zwischen öffentlicher und privater religiöser Anbetung. Im Leviathan hat der Souverän das Monopol auf die Rituale des Gottesdienstes und die ihm zugrundeliegende Doktrin, doch was Hobbes über die Psyche des Menschen zu sagen hat, errichtet eine innere geistige Grenze, die von öffentlichen Glaubensbekundungen nicht überwunden werden kann. Hobbes überträgt dem absoluten Herrscher die Verantwortung für den öffentlichen Gottesdienst – aber auch nur für diesen. Inquisitorische Bestrebungen, um festzustellen, ob der Bürger auch tatsächlich glaubt, dass »Jesus der Christus ist«, gehören nicht dazu. Hobbes hofft ganz offensichtlich, dass Angst und Leichtgläubigkeit mit der Zeit nachlassen und der moderne Mensch die Religion weniger brauchen wird – sodass er seinen Glauben im stillen Kämmerlein leben kann und ihn nicht in den öffentlichen Raum tragen muss.
Weniger offensichtlich, aber ebenso folgerichtig, ist Hobbes’ Eintreten für die Befreiung akademischer Forschung von der Kontrolle durch die kirchliche Obrigkeit. Nicht nur wurden die Wissenschaften dadurch frei von theologischer Zensur, die Religion wurde dadurch selbst zum Objekt wissenschaftlicher Betrachtung. Wir denken uns heute nichts dabei, dass es im Westen Fächer wie Religionswissenschaft, Religionspsychologie, Religionssoziologie und so weiter gibt. Doch all diese Disziplinen konnten sich nur auf dem Hintergrund von Hobbes’ religionswissenschaftlichen Überlegungen entwickeln. Sogar die moderne Theologie wurde durch dieses akademische Reformprogramm (das sich, wie einmal deutlich gesagt werden
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