Der träumende Diamant 1 - Feuermagie
ihre Furcht die Kontrolle über sie erlangten … Sie hätte mit ihm streiten sollen, handeln …
Er hatte gewusst, wo sie lebte.
Rue sah sich in ihrem Zimmer um, blickte auf ihr zerdrücktes Bett, den Nachttisch aus Rosenholz und den Stich an der Wand aus der Renaissancezeit, der ein kleines Hirtenmädchen zeigte. Das Rapier war ein kaltes Gewicht in ihrer Hand.
Sie warf es aufs Bett, dann hastete sie die Treppe hinunter, vollzog vor der Tür die Wandlung und jagte ihm hinterher in den Himmel.
Die Tauben stoben panikerfüllt auseinander. Sie schoss auf sie zu, mitten durch sie hindurch und an ihnen vorbei, während diese kreischten und von den Zaunpfosten aufflatterten. Jassamine Lane und die Häuser schrumpften unter ihr zusammen, bis sie wie aus einer Puppenstube aussahen, ebenso wie die Menschen, die nicht den Blick hoben. Der Tag dämmerte herauf, und Kit war deutlich vor ihr zu erkennen; aus Rauch bestehend, gewandt und anmutig, wie sie ihn als Kind jahrelang bewundert hatte, fegte er an der Unterseite der Wolken entlang.
Er war schnell. Sie ebenfalls.
Und dann verschwand er. Sie sah noch die Dunstspirale, die darauf schließen ließ, dass er höher emporgestiegen und durch die Wolkendecke gebrochen war, und so tat sie es ihm nach, durchstieß die dichten Schichten, wurde eins mit den kühlen, schmutzigen Nebeln, stieg höher und höher …
Sie löste sich aus den Wolken und sauste hinaus in den offenen,
blauen Himmel, wo die Luft dünn war, und er war ebenfalls dort, noch immer in seiner Rauchgestalt. Und dann vollzog er wieder die Wandlung und wurde zu einem Drákon.
Schimmernde Schuppen, smaragdgrün und azurblau. Er blickte nur einmal zu ihr zurück, verschmolz beinahe mit dem Sonnenlicht, ein beständiges Sichdrehen über der Erde. Seine Flügel waren von einem tiefen Scharlachrot, und ihre mächtigen Schläge hielten ihn in der Luft. Er wandte sein Gesicht ab und stieß wieder hinunter.
Es war eine Herausforderung oder ein Trick. Sie hatte keine Zeit zu entscheiden, um was es sich tatsächlich handelte. In dieser Gestalt würde er sogar noch schneller sein. Sie würde nicht mit ihm mithalten können, und es war zu spät, sich nun zurückzuziehen. Es stand zu viel für sie auf dem Spiel. So tat Rue, was sie nie zuvor vor den Augen eines Stammesmitgliedes getan hatte, was sie selbst hier draußen, um Rande des Himmels, ganz allein, kaum je gewagt hatte. Sie nahm ebenfalls ihre Drachengestalt an.
Ah. Die Luft ihres ersten Atemzuges fühlte sich an wie Schnee. Bitterkalt durchströmte sie ihr gesamtes Wesen mit Licht und Energie. Einen keuchenden Augenblick lang glaubte sie, vor Eiseskälte zu erstarren, dann spürte sie ihr Sein und ihre Gestalt wieder. Sie hob den Kopf und schöpfte noch einmal tief Luft, schoss über das Firmament, eine Kreatur wie eine Illusion, die zur Sonne und diesen reineren Wolken gehörte. Ihr Körper war perlweiß, und ihre Schuppen waren golden umrahmt.
Die Drákon waren schlanker, als jene Abbildungen es vermuten ließen, die auf alten mittelalterlichen Wandteppichen und Texten überdauert hatten: keine fetten Bäuche und kein schleppender Gang, sondern lebendige Flamme und Schnelligkeit und goldene Flügel, die den Wind beherrschten. Kein
Wunder, dass die Anderen sie in ihren Geschichten so schwerfällig dargestellt hatten. Im wahren Leben war ihr strahlender Glanz beinahe unfassbar, sie waren Splitter des Himmels, so todbringend und glorreich wie ein Hagel von brennenden Pfeilen.
Und Christoff, der Stärkste von ihnen allen, war noch immer so weit vor ihr.
Rue streckte sich, um ihm besser folgen zu können, breitete die Schwingen aus und schnellte nach vorne, um in einen lang gezogenen Sturzflug zu gehen, der den oberen Teil der Wolken in einen wirbelnden Streifen zerriss.
Sie holte auf. Er sah zu ihr zurück, machte bei ihrem Anblick einen geschickten Bogen und raste dann weiter, höher und immer höher. Doch sie schraubte sich ebenfalls nach oben, ihm nach.
Die Luft war hier viel dünner. Noch nie zuvor war sie so weit oben gewesen, doch er machte nicht halt, und das Blau der Umgebung wurde tiefer, beinahe ein Indigo nun, und die Wolken unter ihr wurden weicher und waren jetzt eine riesige, elfenbeinfarbene Decke. Das Atmen wurde schwerer. Auch er wurde jetzt endlich langsamer, die scharlachroten Flügel schlugen rascher; ohne die Atmosphäre, die ihnen Auftrieb gab, war das Fliegen mühsamer. Doch sie kam voran; sie war weniger schwer als er,
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