Der träumende Diamant 2 - Erdmagie
die Farbenpracht oder den Raum. In den Träumen, die sie heimsuchten, konnte sie nichts sehen. Doch Lia hatte es gewusst.
In dem Augenblick, in dem sie die rote Seide im Schaufenster des Textilhändlers gesehen hatte, damals, an jenem regnerischen Abend in Edinburgh, hatte sie gedacht: Die ist es .
Und der Haarpuder aus dem Pariser Salon: ja, dieser .
Die Musik, ein Wiener Stück, das noch immer als modern galt, als eines der Mädchen es auf dem Klavier spielte: diese Melodie.
Die Flasche Parfüm, ein Geschenk ihrer Schwestern.
Der Spitzenfächer.
Die Stadt.
Das Hotel.
Sein Gesicht, denn das war unveränderlich: wie gemeißelt und wachsam und triumphierend auf die wilde Art eines Raubtieres, zu weit außerhalb menschlicher Reichweite, um gezähmt zu werden, ernst und wunderschön trotz aller Unbändigkeit. Das Kerzenlicht ließ seine Züge deutlich zutage treten. Seine Augen leuchteten animalisch.
Er war elfenbeinfarben gekleidet, während alle anderen in blumigen Pastellfarben auftraten. Seine Perücke war schlicht, wohingegen all die übrigen Männer Locken über Locken trugen. Er war der einzige Mann in der Nähe, der nicht einmal den Versuch machte, ihr in den Ausschnitt zu gaffen.
Das war Zane. Das war sein Gesichtsausdruck, als sie zu ihm emporschaute, und er war ihr so vertraut, dass sie einen Augenblick lang nur dort saß, ihn bewunderte und alles vergaß, was ihn ausmachte. Sie vergaß auch alles, was sie unternommen hatte, damit sie beide sich an diesem seltsamen, prachtvollen Ort treffen konnten. In diesem Augenblick war er nur Zane, der sehr dunkle Mann aus ihren Träumen. Und
weil er dort bei ihr lag, quoll ihr Herz über vor bittersüßer Freude.
Töricht.
Er war noch immer Zane. Sie hätte wissen müssen, dass er ihr nicht guttun würde.
Er beobachtete, wie sich ihre Mundwinkel hoben. Ein Teil von ihm - der Teil, der noch immer ganz benommen war von ihrer Magie, dem Schnitt ihrer Augen und dem Kontrast zwischen der dunkelroten Seide und der milchigweißen Haut ihrer Brust und ihrer Arme, ihrem Schwanenhals und der Fülle der dicken, rauchiggrauen Locken, die ihr auf die Schultern fielen, halb zusammengesteckt, halb gelöst, als wäre sie gerade erst aus einem sehr weichen Bett getaumelt - dieser Teil stand reglos dort und starrte sie nur an, betäubt und verwirrt wie all die anderen Narren, die sie umringten.
Aber der andere Teil von ihm war noch immer ein ausgestoßener Bastard in einem Raum voll unbekannter Gefahren. Es war dieser Teil, der ihn dazu brachte, seine Kiefer zusammenzupressen, und der das Blut wieder in sein Herz pumpte. Er beugte sich vor, ohne ein einziges Wort an irgendjemanden zu richten, nahm ihre Hand und zog sie hoch, sodass sie stand.
Die Dandys wichen mit angehaltenem Atem zurück. Einige der jüngeren Männer begannen zu protestieren, doch Zane bedachte lediglich die Frau, die sie Marie genannt hatte, mit einem Nicken und führte Amalia zu einer kleinen, menschenleeren Stelle an einen Seitentisch, der mit Tellern voller Himbeeren und mit Kelchen, in denen Punsch funkelte, beladen war.
Er ließ den Blick schweifen, um sicher zu sein, dass niemand sie hören konnte, dann sah er zu ihr hinab.
»Was zur Hölle tust du hier?«
Sie hatte sich nicht gegen den gezwungenen Marsch quer durch den Ballsaal gewehrt, und als sie ihm antwortete, war ihre Stimme ruhig. »Das Gleiche wie du, nehme ich an.«
»Du solltest in der Schule sein.«
Sie senkte den Kopf und lächelte - ein weiterer Schock, denn es war eindeutig das Lächeln einer Frau und sowohl sinnlich als auch eine Spur belustigt. »Ich habe die Schule beendet.« Sie löste ihre Hand aus der seinen und ließ sie langsam an der zusammengeschnürten Kurve ihrer Taille hinabsinken.
»Nun ja … Ich bin jetzt fertig.«
»Großer Gott«, sagte er schließlich, weil ihm nichts Besseres in den Sinn kam.
» Merci «, murmelte sie. » C’est très gentil .«
Ein Dienstmädchen näherte sich dem Tisch und machte vor ihnen einen Knicks, ehe sie damit begann, Punsch in Gläser zu füllen. Zane fasste Lia beim Ellbogen und schob sie fort vom Tisch.
»Warst du es, die mir die Einladung geschickt hat?«, fragte er.
»Ja.«
»Und wer ist dann dieser Comte du Abany?«
»Er ist der Gentleman, der diesen prächtigen Ball ausrichtet. Ich genieße die Zeit ganz außerordentlich.« Ihr Lächeln wurde breiter, nur eine Spur.
»Zu Hause haben wir nie Bälle. Ich kann mir nicht vorstellen, warum.«
»Nun, das kannst du
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