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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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aus der Trafik und ging so lange ziellos durch die Straßen, bis das Hufgeklapper der Milchwägen zu hören war und über den vereisten Dächern der Wintermorgen graute. Dieses Gehen in den nachtstillen Straßen beruhigte ihn, er hörte den Schnee unter seinen Schritten knirschen und sah seinen Atemhauch wie ein zartes Fähnchen vor seinem Gesicht dahinwehen. Im frühen Dämmerlicht, wenn die Laternenwärter auf ihre Leitern stiegen und die Gaslaternen löschten und sich die ersten Arbeiter mit schattigen Gesichtern auf ihren Weg zur Frühschicht machten, bewegte er sich nur mehr in einem nebeligen Schwebezustand zwischen Wachen und Träumen. Und während er dann müde und langsam zur Trafik zurückschlich, begegnete ihm an jeder Ecke das böhmische Mädchen. Böhmisches Mädchen unter der Laterne. Böhmisches Mädchen hinterm Zaun. Böhmisches Mädchen im Hauseingang, das Gesicht von der Glut einer Zigarette erhellt. Böhmisches Mädchen im Schaufenster, die Arme nach ihm ausgestreckt und lächelnd.
    (Karte mit Schönbrunner Schlosspark, laternenbeleuchtet und schneeüberzuckert)
    Liebe Mutter,
    jetzt bin ich schon eine ziemliche Weile hier in der Stadt, allerdings kommt mir ehrlich gesagt alles immer fremder vor. Aber vielleicht ist es ja so mit dem ganzen Leben: Man entfernt sich von Geburt an und mit jedem einzelnen Tag ein bisschen weiter von sich selbst, bis man sich irgendwann gar nicht mehr auskennt. Kann es sein, dass es wirklich so ist? Fragt mit vielen Grüßen,
    Dein Franz
    (Karte mit Attersee, grün schimmernd wie ein Schmuckstück, offenbar von einem Flugzeug oder einem Zeppelin aus aufgenommen)
    Lieber Franzl,
    hast Du Dich vielleicht verliebt? Das wäre nämlich eine Erklärung für Deine Zustände. Sich verlieben heißt ja bekanntlich: sich nicht mehr auskennen. Zu Deiner Frage kann ich Dir sagen: Das ganze Leben ist ein fortwährendes Auseinandergehen. Als Mutter weiß man das genau. Aber so ist es halt, und man gewöhnt sich daran. Ansonsten hoffe ich, Dir geht es gut und Du machst dem Otto Trsnjek keine Schande. Bei uns am See gibt es einstweilen nichts Neues, und das ist eigentlich auch ganz angenehm. Es grüßt Dich mit einer festen Umarmung,
    Deine Mama
    »Du schaust schlecht aus«, sagte Otto Trsnjek, ohne von seiner Buchhaltung aufzusehen.
    »Was?«, fragte Franz verwirrt und hob den Kopf, der ihm gerade wieder nach vorne auf die Brust gekippt war. Seit er im Prater sein Glück gefunden und gleich darauf wieder verloren hatte, waren mittlerweile zwei Monate vergangen. Zwei Monate voller trüber Tage und schlafloser Nächte.
    »Schlecht schaust du aus!«, wiederholte Otto Trsnjek. »Hundsmiserabel, um genau zu sein. Wie des Todes unseliger Großvater. Kalkweiß, zaundürr, hundemüde und mindestens zehn Jahre älter, als du bist. Wenn das so weitergeht, kannst du nächstes Jahr Rentengeld beantragen.«
    »Nein, nein, mir geht es gut«, sagte Franz schnell und bückte sich nach der Zeitung, die seinen schlaffen Händen entglitten war. »Vielleicht macht mir das Wetter irgendwie zu schaffen, aber sonst ist alles in Ordnung.«
    »Was stimmt denn nicht mit dem Wetter?«
    »Es ist … ein bisserl kalt.«
    »Es ist ja auch Winter.«
    »Ja«, seufzte Franz leise, »Winter.«
    Über den Brillenrand hinweg blickte der Trafikant zu seinem Lehrling, der jetzt seinen Kopf tief im Wirtschaftsteil zu verbergen suchte.
    »Und was, außer dem überaus ungewöhnlichen Umstand, dass der Winter dieses Jahr schon im Dezember über uns hereingebrochen ist, bedrückt dich sonst noch?«
    Es dauerte einige Sekunden, bis Franz seinen Widerstand aufgab. Doch dann ließ er die Zeitung endgültig auf die Dielen gleiten, sprang vom Hocker auf und rief voller Verzweiflung gegen die staubige Decke: »Ich habe mich verliebt!«
    In einem winzigen Moment, ungefähr halb so lange wie es braucht, eine Schlagzeile zu überfliegen, hatte Otto Trsnjek die Brisanz des Themas erkannt. »Jesusmariaundjosef«, entfuhr es ihm, »das ist schlimm!«
    »Mehr als schlimm!«, rief Franz aus. »Es ist eine Katastrophe! Was soll ich denn jetzt bloß machen?«
    Otto Trsnjek überlegte. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Geh ins Hallenbad und schwimm ein paar Runden. Das ist gut für die Knochen und macht die Gedanken frei!«
    Franz ließ die Hände sinken und sah ihn an. Zum ersten Mal bemerkte er, wie klein der Trafikant war. Es war, als ob er geschrumpft wäre in letzter Zeit. Bald würde er sich endgültig

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