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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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die Gondel sich mit einem dumpfen Rucken hob und langsam höher stieg, breitete sich unter ihr die lichtergesprenkelte Stadt aus. In der Tiefe das Pratergewusel. Dort der Stephansdom. Da die Votivkirche. Ganz hinten der Kahlenberg, ein dunkler Schattenriss im Nachthimmel. Franz legte seine Wange an das abgegriffene Holz eines Fensterrahmens und schloss die Augen. Und als der Waggon an der höchsten Stelle angekommen war und das Rad für einen Moment stillstand und Franz das leichte Schaukeln unter seinen Füßen spürte und draußen den Wind pfeifen hörte, ballte er die Faust, holte aus und schlug so fest gegen die Bretterwand, dass die beiden Tauben, die sich auf dem Gondeldach schon lange zur Ruhe gehockt hatten, erschreckt aufflatterten und in der Weite der Nacht verschwanden.
    Am nächsten Morgen wurde Franz in seinem Kämmerchen von einem ungewöhnlichen Lärm geweckt. Draußen wurde die Tür mehrmals unter heftigem Geklingel aufgerissen und wieder zugeschlagen, wütendes Geschrei war zu hören. Franz erkannte Otto Trsnjeks aufgebrachte Stimme, unterbrochen vom heiseren Bass des Fleischermeisters Roßhuber und immer wieder übertönt vom Gejohle einer kleineren Menschenmenge. So schnell es ihm sein erbärmlicher Zustand erlaubte, stieg er aus dem Bett und schlüpfte in seine Sachen. Sein Kopf tat ihm weh, und die Knöchel seiner rechten Hand waren schmerzhaft geschwollen. Aus dem Spiegel starrte ihm blass und hohlwangig die Erinnerung an den gestrigen Abend entgegen. Er prustete in seinen Waschkübel hinein, gurgelte mit Seifenwasser, trocknete sich das Gesicht und ging hinaus. Um die Trafik hatte sich ein kleiner Auflauf gebildet, in dessen Mitte sich Otto Trnsjek und der Fleischermeister wie zwei lauernde Jahrmarktringer gegenüberstanden.
    »Ach, bist du auch schon aufgekrochen?«, schrie ihm der Trafikant entgegen.
    »Was ist denn los?«, stammelte Franz.
    »Mach halt die Augen auf!«, Otto Trnsjeks Gesicht war dunkelrot, an seiner Schläfe wanden sich ein paar Adern wie ein Häuflein bläulicher Würmer. Mit einer seiner Krücken zeigte er zitternd vor Wut auf die Trafik. Das Trottoir und die Ladenfront waren mit einer rotbraunen Flüssigkeit beschmiert. Es sah aus, als hätte jemand mehrere Kübel Farbe oder Dreck verspritzt. An der Auslagenscheibe stand in großen, zerlaufenen Buchstaben: SCHLEICH DICH, JUDENFREUND! , und an der Mauer neben der Eingangstür prangte ein rundes Gebilde, ungeschickt und offensichtlich eilig hingeschmiert, trotzdem aber eindeutig als riesiges, menschliches Hinterteil mit rudimentären Gesichtszügen zu erkennen: ein sogenannter »Arsch mit Ohren«.
    Franz trat einen Schritt an die Auslage heran und berührte mit einem Finger vorsichtig das »J« vom JUDENFREUND . Die Schmiererei war anscheinend mit einem groben Pinsel aufgetragen worden und fühlte sich eklig an – an den Rändern trocken und verkrustet, an den etwas dickeren Stellen immer noch klebrig und feucht. Zudem verbreitete sie einen widerlichen Gestank: ranzig, süßlich, aber auch ein wenig sauer.
    »Was ist das?«, fragte er leise.
    »Blut!«, schrie Otto Trsnjek. »Schweineblut! Von unserem liebenswerten Nachbarn Roßhuber höchstpersönlich hingeschmiert!«
    »Was erst zu beweisen wäre«, meinte der Fleischermeister ruhig. »Außerdem ist das Blut nicht von einer Sau, sondern von einem Hendl. Das sieht ja wohl ein jeder!«
    »Dann eben von mir aus von einem Hendl!«, brach es aus Otto Trsnjek heraus. »Und wer hat wohl den ganzen Tag mit den Viechern zu tun? Und wer ist so hirntot, sein Selbstporträt neben meine Tür zu pinseln? Und wer trägt schon sein halbes Leben das Hakenkreuz hinterm Revers und wartet nur auf die Gelegenheit, es hervorzukehren?«
    »Was mir hinterm Kragen steckt, geht dich einen Scheißdreck an«, meinte Roßhuber und verschränkte seine riesigen Arme vor der Brust. »Und das Porträt trifft schon genau den Richtigen!«
    »Und deine Händ’?«, brüllte Otto Trsnjek.
    »Was ist damit?«
    »Da klebt ja noch Blut dran!«
    »Was soll denn sonst dran kleben? Immerhin bin ich ein Fleischhacker!«
    Otto Trsnjek schluckte. Für einen Moment sah es so aus, als würde er seine Krücken fallen lassen und dem Fleischermeister an die Gurgel gehen. Doch plötzlich wandte er sich dem Kreis der Umstehenden zu, der sich immer enger um das Geschehen gezogen hatte und mittlerweile zu einer beachtlichen Menschenansammlung angewachsen war.
    »Dieser Mensch!«, holte er aus. »Dieser sogenannte

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