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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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zu drehen, deren Busen fast ihre Dirndl sprengten und die ihm aus glänzenden Mondgesichtern entgegengrinsten. Auch den Frühschoppen im Goldenen Leopold hatte er immer gemieden, und selbst beim sommerlichen Seefest war er stets ganz am Rande gesessen und hatte sich bewegungslos und still seinen weit über die Seefläche dahinfliegenden Gedanken gewidmet. Nun aber tanzte er. Erst waren seine Bewegungen noch ein bisschen steif und zögerlich, doch bald schon wurden sie weicher, geschmeidiger und freier, bis er schließlich in einem Augenblick seliger Geistlosigkeit losließ und sich in den Armen dieser runden, böhmischen Königin fallen, treiben, wiegen und schaukeln ließ. Er fühlte ihre Hand, die langsam an seiner Hüfte entlangwanderte und wieder auf seinem Hintern landete. Er sah ihr in die Augen, sah ihr Lächeln, sah ihre kleine Oberlippenwölbung und sah ihre Zahnlücke. Und als er ihren Busen an seinem Bauch spürte, gab er es endgültig auf, seine mittlerweile ins Ungeheure herangewachsene Erektion verbergen zu wollen.
    Sie tanzten, bis ihre Füße brannten. Und jedes Lied war noch ein bisschen schmalziger und noch ein bisschen herzzerreißender als das vorhergehende: Du sollst mein Glücksstern sein, Merci Mon Ami, Ich werde jede Nacht von Ihnen träumen, Paris, du bist die schönste Stadt der Welt, Mein Herz ruft immer nur nach dir, o Marita und so weiter. Nach dem ungefähr zehnten Stück brauchten die Musikanten eine Bierpause und verließen die Bühne in Richtung Schank. Immer noch klebte das Mädchen an Franz’ überhitztem Körper, und plötzlich spürte er ihre Lippen an seinem Ohr. »Haben wir gesoffen, haben wir getanzt – und was machen jetzt?«, flüsterte sie und Franz brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass er wie ein glücklicher Idiot aus seinem feuerroten Gesicht herauslächelte. »Ich hab noch zweieinhalb Schilling«, sagte er mit leicht brüchigem Timbre. »Das sind entweder vier Krügel Bier, ein paar Runden auf dem Schießstand oder eine Doppelrunde im Riesenrad!«
    Das Mädchen trat einen Schritt zurück und sah ihn an. Ein ungläubiges Erstaunen lag in ihrem Blick, und für einen winzigen Moment kam es Franz vor, als wären ihre braunen, warmen Augen erstarrt. Wie Bernstein, dachte er, wie die beiden Bernsteintropfen, die er einmal als Erstklässler in der Bad Ischler Heimatausstellung gesehen hatte, nur dunkler und größer und ohne eingeschlossenes Insekt darin. Doch schon in der nächsten Sekunde begannen ihre Augen wieder zu glänzen, ihre Gesichtszüge lösten sich und sie fing an zu lachen. Es war ein kurzes Lachen, hell und spitz, ähnlich dem Juchzer, den sie ganz oben auf dem Sturmboot ausgestoßen hatte. Sie umarmte Franz und drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange. »Gleich wieder da, Burschi!«, sagte sie, drehte sich um und ging. Gebannt beobachtete Franz, wie ihr Hintern im Takt ihrer Schritte schaukelte, so wie er eben noch zum Rhythmus von Merci Mon Ami geschaukelt hatte. Wie das sanfte Wiegen der kleinen Fischerboote dachte er und sah, wie sie in der hölzernen Baracke verschwand, in der sich die Toiletten befanden. Dann ging er zum Tisch zurück, setzte sich und bestellte noch zwei weitere Krügel Bier.
    Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis er endgültig begriffen hatte, dass sie ohne ihn gegangen war. Vielleicht war sie, vom beständigen Gewusel der vielen kommenden und gehenden Gäste geschützt, durch den Gastgarten gelaufen, vielleicht hatte sie sich einfach durch den Hinterausgang neben der Küche fortgeschlichen. Jedenfalls war sie nicht mehr zu finden. Mehrmals war er die Tischreihen abgegangen, hatte jeden einzelnen Kellner nach ihr gefragt, sie drinnen in den leeren Gasträumen gesucht und sogar unter dem empörten Gekreische der Besucherinnen die Damentoilette betreten. Doch das böhmische Mädchen war weg.
    Er stürzte die mittlerweile warm gewordenen Biere hinunter, verlangte mit schwerer Zunge die Rechnung und verließ den Gastgarten, in dem die Musik längst wieder aufzuspielen begonnen hatte und die Pärchen sich in enger Umarmung zu Was klopft da so weich in deiner Brust? wiegten.Mit hängendem Kopf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, ging er durch den jetzt schon stark ausgedünnten Strom der Praterbesucher und hob den Blick erst wieder, als er direkt unter dem Riesenrad stand. Mit seinen restlichen Münzen erstand er eine Karte und bestieg als einziger Fahrgast den letzten Waggon der letzten Umdrehung dieses Abends. Als

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