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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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starrte er mit ausdruckslosem Blick vor sich hin. Ein einzelnes Mandelstückchen lag auf dem Tischtuch neben der Brotschale. Er tippte es mit der Fingerspitze auf und schob es sich in den Mund. Dann, mit einem Seufzer, der das Leid des ganzen Menschengeschlechts in sich zu bergen schien, stand er auf und sagte: »Ich rauche heute draußen!«
    Franz sprang sofort auf, als drüben das schwere Tor aufging und der Professor ins Freie trat. Fast hätte ihn der Schwung seiner eigenen Beflissenheit gleich wieder umgerissen, seine Beine waren steif wie Bretter, und der Hintern schmerzte vom stundenlangen Sitzen auf der kalten Holzbank. Aber jetzt stand er da und sah, wie der Professor auf etwas wackligen Beinen und in seiner vorgebeugten Haltung die Straße überquerte und direkt auf ihn zukam.
    »Darf ich mich setzen?«, fragte Freud und ließ sich, ohne eine Antwort abzuwarten, auf der Bank nieder. Mit spitzen Fingern fischte er ein mattsilbriges Schächtelchen aus seiner Manteltasche und entnahm ihm eine Virginia. Doch ehe er sich den Stumpen zwischen die Lippen stecken konnte, saß Franz schon neben ihm und hielt ihm eine lange, schlanke Zigarre vors Gesicht. Der Professor schluckte. »Eine Hoyo de Monterrey«, sagte er mit leicht belegter Stimme. Franz nickte: »An den sonnigen, fruchtbaren Ufern des Flusses San Juan y Martínez von tapferen Männern geerntet und von deren schönen Frauen in zarter Handarbeit gerollt.«
    Freud tastete die Zigarre in ihrer gesamten Länge sanft ab und drückte sie leicht zwischen Daumen und Zeigefinger.
    »Eine aromatische Habano, die leicht im Geschmack ist, jedoch durch große Eleganz und Komplexität überzeugt«, sagte Franz mit einer Selbstverständlichkeit, die nichts davon erahnen ließ, wie viele mühevolle Nachtstunden es ihn gekostet hatte, die Beschreibungen auf der Zigarrenkiste auswendig zu lernen. Aus seiner Hosentasche holte er einen versilberten Zigarrenschneider und reichte ihn dem Professor: »Eine Habano soll genau über der Linie geschnitten werden – dort, wo sich Kappe und Deckblatt vereinen!«
    Freud schnitt die Spitze ab und zündete die Hoyo mit einem fingerlangen Streichholz an. Dabei hielt er die Flamme etwa einen Zentimeter entfernt und zog so lange daran, bis das Feuer das Brandende erreicht hatte. Dann drehte er sie langsam zwischen seinen Fingern und blies sachte auf die Glut. Mit einem leichten Lächeln lehnte er sich zurück und blickte dem bläulichen Rauch nach, der sich in der klaren Winterluft verkräuselte.
    »So, und jetzt raus mit der Sprache: Was willst du?«
    Franz räusperte sich umständlich, ruckelte seinen Hintern auf der Bank zurecht, räusperte sich noch einmal und wandte sich schließlich mit der verzweifelten Miene eines Ertrinkenden seinem Sitznachbarn zu.
    »Ich habe mich verliebt, Herr Professor!«
    Freud hielt die Zigarre gegen das Sonnenlicht und betrachtete sie versonnen.
    »Ich gratuliere!«, sagte er. »Du verlierst nicht gerne Zeit, was?«
    »Nein, Herr Professor, aber ich hab sie verloren!«
    »Wen?«
    »Das Mädchen!«
    »Ich denke, du hast dich verliebt?«
    »Ja, aber unglücklich!«, platzte es aus Franz heraus wie der Korken aus einer durchgeschüttelten Champagnerflasche. Freud, den seine Kieferprothese wieder zu quälen begann, legte den Kopf schief und starrte eine Weile in den leeren Raum zwischen Bank und Eingangstor. »Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas«, sagte er schließlich, und es klang, als wollte er jedes Wort einzeln zwischen seinen Zähnen zermahlen.
    »Wie bitte, Herr Professor?«
    »Das heißt so viel wie: ›Kopf hoch!‹«
    »Wie kann ein derartig langer Satz eine so kurze Bedeutung haben?«
    »So ist das oft mit Sätzen. Wer viel redet, hat meist wenig zu sagen«, antwortete Freud ein wenig verdrießlich. »Im Übrigen: Was habe ich eigentlich mit der ganzen Angelegenheit zu tun?«
    »Sie sind doch Schuld!«, rief Franz aus. »Sie haben mir doch empfohlen, mich zu amüsieren und mir ein Mädchen zu suchen!«
    »Du machst also den Arzt zum Krankheitserreger?«
    »Ach was!«, Franz sprang auf und begann mit ausladenden Schritten vor der Bank auf und ab zu gehen: »Ich verstehe nichts von Ärzten oder Krankheitserregern. Ich weiß nur, dass ich erregt bin! Und zwar dauernd und immer. Ich kann kaum arbeiten. Ich kann kaum schlafen. Ich träume blödsinnige Sachen. Ich renne bis zum Sonnenaufgang in der Stadt herum. Mir ist heiß. Mir ist kalt. Mir ist schlecht. Ich habe Bauchweh, Kopfweh, Herzweh.

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