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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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aufgelöst haben, im staubigen Schatten seiner Zeitschriftenstapel.
    »Ins Hallenbad?«
    Otto Trsnjek kratzte sich hinterm rechten Ohr. Sein Blick wanderte langsam über die Verkaufstheke, glitt über deren Rand auf den Boden hinunter, kroch in kleinen Bögen über die Dielen und blieb schließlich irgendwo knapp vor Franz’ Schuhspitzen hängen.
    »Hör zu, ich verstehe nichts mehr von diesen Dingen. Früher vielleicht, da war in der Hinsicht noch was los mit mir. Frag deine Mutter, die wird sich wahrscheinlich daran erinnern. Aber das ist lange her. Ein halbes Menschenleben. Die Wahrheit ist: Mit dem Bein ist auch meine Jugend im Schützengraben liegen geblieben. So ist das und nicht anders. Das ist manchmal bitter, hat aber im Grunde genommen auch seine angenehmen Seiten. Mittlerweile kann mir die Liebe nichts mehr tun. In der Beziehung habe ich meine Ruhe, und wenn ich mich aufregen will, lese ich Zeitung. In der Welt passieren genug Unsinnigkeiten, da brauch ich so etwas nicht auch noch in meiner Trafik. Wenn ich dir also einen bescheidenen Rat erteilen darf, mein patscherter Lehrbub: Such dir für solche delikaten Sachen eine andere Ansprach’, und lass mich damit in Frieden.«
    Er lächelte ein wenig verlegen, blies dann sorgfältig die Spitze seiner Feder trocken und beugte sich tief über seine Bücher. Nach einer Weile setzte sich Franz wieder und beide schwiegen für den Rest des Tages.
    In der Berggasse 19 hingen immer noch die wunderbarsten Düfte in der Luft: Es roch nach Frittatensuppe und Zwiebelrostbraten mit Petersilienkartoffeln sowie nach Vanillepudding, übergossen mit heißer Zartbitterschokolade und bestreut mit frisch gerösteten Mandelsplittern. Professor Sigmund Freud nahm seine Serviette ab, öffnete unauffällig den obersten Knopf seiner Hose und faltete mit einem zufriedenen Ächzen die Hände über seinem Bauch. Ausnahmsweise – und nur weil Martha, die Gattin des Professors, mit leicht erhöhter Temperatur und einem unangenehmen Reizhusten zwei Zimmer weiter im Bett lag – war an diesem Sonntag seine Tochter Anna am Herd gestanden. Anna hatte sich über die Jahre nicht nur zu einer ungemein produktiven und einfühlsamen Psychoanalytikerin entwickelt (ja mehr noch: zu der einzig legitimen Nachfolgerin ihres Vaters und zur treuen Trägerin seines Werkes), sondern auch – was Freud insgeheim fast noch höher zu schätzen wusste – zu einer gleichermaßen begabten wie resoluten Köchin. Insbesondere den Zwiebelrostbraten verstand sie zuzubereiten wie kaum sonst jemand in Wien: Das Fleisch war saftig und auf den Punkt gebraten, die Zwiebeln in Mehl und Butter goldgelb geröstet und die Kartoffeln mit frischen, winzig gehackten Petersilienschnipseln bestreut. Freud betrachtete seine Tochter aus den Augenwinkeln. Immer noch stocherte sie mit ihrem Silberlöffelchen im Pudding herum und blätterte dabei in einem von Arthur Schopenhauers dicksten Schmökern. Sie hatte ihr Haar am Hinterkopf zu zwei schneckenartigen Gebilden aufgerollt, in denen ein paar Wintersonnenstrahlen glänzten, die sich für wenige Mittagsminuten in die Häuserschlucht der Berggasse und bis hierher, ins Esszimmer der Familie Freud, verirrt hatten. Es war ihm immer ein Rätsel gewesen, woher Frauen die Fingerfertigkeit und die Geduld nahmen, um auf ihren Köpfen derartige Strukturen zu errichten. Aus dem Schlafzimmer drang ein leises Krächzen, gefolgt von einem wohligen Stöhnen und einigen undefinierbaren Bettgeräuschen. Ach, das Weib, dachte Freud mit stiller Verwunderung, was will es, und was soll es uns? Im selben Moment spürte er Annas Blick auf sich gerichtet, diesen Blick, den er mehr liebte als alles andere in seinem Leben. »Ich schau lieber noch mal!«, sagte sie. Dann legte sie Löffel und Schopenhauer weg, ging zum Fenster und sah auf die Straße hinunter.
    »Er ist immer noch da!«
    Freud hüstelte. »Wie lange sitzt er schon da unten?«
    »Um die drei Stunden.«
    »Bei dieser Kälte?«
    »Er hat einen Schal.«
    Mit der Zungenspitze betastete Freud behutsam die Ränder seiner Kieferprothese. Diese scharfe Kante dort hinten müsste etwas geglättet werden und die Ecke an der Seite ein wenig abgeschliffen. Während des Essens waren die Schmerzen im Mund noch erträglich gewesen, aber jetzt wurde es langsam wieder schlimmer. Im Grunde genommen taugten die Herren Doktoren ja alle nichts. Vielleicht sollte er beim nächsten Mal einen Tischler aufsuchen. Oder gleich einen Grabsteinschleifer. Eine Weile

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