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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Alles auf einmal. Vor Kurzem bin ich noch am Ufer gesessen und habe den Enten zugesehen. Und kaum bin ich in der Stadt, geht alles drunter und drüber. Übrigens nicht nur in mir, sondern auch sonst überall. In den Zeitungen kann man es ja nachlesen: An einem Tag schreien alle nach diesem Schuschnigg. Am nächsten Tag schreien alle nach diesem Hitler. Und ich hocke in der Trafik und frage mich: Wer sind die beiden überhaupt? Ich putze Schweineblut von der Auslage und sitze heulend in der Grottenbahn. Ich tanze mit dem schönsten Mädchen der Welt. Und im nächsten Moment ist sie weg. Verschwunden. Nie da gewesen. Und jetzt frage ich Sie: Bin ich verrückt geworden? Oder ist die ganze Welt verrückt geworden?«
    Professor Freud schnippte mit dem Zeigefinger die Asche von seiner Hoyo und blies behutsam gegen die Glut. »Erstens: Setz dich wieder«, sagte er ruhig. »Zweitens: Ja, die Welt ist verrückt geworden. Und drittens: Gib dich keinen Illusionen hin – sie wird noch viel verrückter!«
    Franz ließ sich auf die Bank fallen und starrte unheilvoll vor sich hin. »Im Grunde genommen ist es mir ja egal, ob die Welt sich aus ihren eigenen Angeln reißt oder nicht. Das Einzige, was mich interessiert, ist dieses Mädelchen.«
    »Wie heißt sie denn überhaupt?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Du kennst nicht einmal ihren Namen?«
    »Eigentlich weiß ich überhaupt nichts von ihr. Außer, dass sie eine Böhmin ist. Und dass sie die schönste Zahnlücke der Welt hat.«
    »Die schönste Zahnlücke der Welt? Dich scheint es ja wirklich erwischt zu haben.«
    »Sag ich doch.«
    »Und was erwartest du nun von mir?«
    »Sie sind doch Doktor! Und außerdem Professor.«
    »Ja, und?«
    »Sie haben Bücher geschrieben. Viele Bücher! Steht denn da gar nichts drinnen, was mir helfen kann?«
    »Ehrlich gesagt: Ich glaube nicht.«
    »Und wozu sollen dann die ganzen Bücher gut sein?«
    »Das frage ich mich manchmal auch.« Freud zog die Füße ein, drückte sich den Hut etwas tiefer in die Stirn und schlug mit einer Hand seinen Kragen hoch. Ein paar Zigarrenzüge lang saßen sie schweigend nebeneinander. Die Sonne war hinter den Dächern verschwunden, mittlerweile war es noch kälter geworden auf der Bank. Franz sah, wie die Hand des Professors leicht zitterte, als er die Zigarre zum Mund führte. Seine Haut war fleckig, spannte sich dünn wie Seidenpapier über die Sehnen und war durchzogen von einem feinen Netz bläulicher Adern. Jetzt erst fiel Franz auf, wie alt und zerbrechlich Freud war. Er wickelte sich seinen Schal vom Hals und reichte ihn dem Professor.
    »Was soll ich damit?«, knurrte der Alte.
    »Es ist Winter – und mit seiner Gesundheit spielt man nicht!«
    »Ha!«, platzte Freud mit einem Anflug von bitterer Fröhlichkeit in seiner Stimme heraus. »Ich bin zu alt, um nicht mehr zu spielen!«
    »Kein Mensch ist zu alt für den selbstgestrickten Wollschal meiner Mutter!«, entgegnete Franz streng und wand den Schal mit einer eleganten Bewegung um des Professors dürren Hals. Nach einem Augenblick ungläubiger Erstarrung reckte Freud sein Kinn aus der dichten Wolle heraus und beschäftigte sich wieder mit seiner inzwischen fast auf die Hälfte zusammengeschrumpften Zigarre.
    »Diese junge Dame hat dich also sitzen lassen«, murmelte er vor sich hin. »So weit die Fakten. Meiner Ansicht nach hast du jetzt genau zwei Möglichkeiten. Möglichkeit Nummer eins: Hol sie dir zurück! Möglichkeit Nummer zwei: Vergiss sie!«
    »Das ist alles?«
    »Das ist alles.«
    »Entschuldigen Sie vielmals, Herr Professor, aber wenn alle ihre Ratschläge sind wie dieser, verstehe ich nicht, warum die Leute so viel Geld bezahlen, um sich auf Ihre Couch legen zu dürfen!«
    Freud seufzte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er daran, einer tief in seinem Inneren aufsteigenden Zornempfindung nachzugeben und das Leben seiner Hoyo an der Stirn dieses impertinenten Bauernbuben auszudämpfen. Er entschied sich dagegen und blies stattdessen bläuliche Kringel in die Luft.
    »Die Leute zahlen so viel Geld, weil sie von mir eben keine Ratschläge zu hören bekommen. Und vielleicht sollte ich dich daran erinnern, dass du es bist, der am Tag des Herrn drei Stunden vor meiner Haustür herumlungert, um mich anschließend mit einer – zugegeben hervorragenden – Zigarre zu bestechen und meinen Rat einzuholen!«
    »Ich bin eben verzweifelt!«
    »Jaja«, seufzte Freud, »an den Klippen zum Weiblichen zerschellen selbst die Besten von uns!«
    »Und ich

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