Der Trakt
verwunderlich, wenn Braunsfeld sie nicht auf Anhieb erkannte. Langsam bewegte sie sich auf ihren Chef zu und sah ihm dabei unentwegt in die Augen. War da ein Flackern des Erkennens? Eine Regung, ein kleinstes Anzeichen dafür, dass ihr Anblick in ihm eine Erinnerung weckte?
Nein. Da war nichts außer dem typischen, Braunsfeld’schen Verkäufer-Lächeln. Sie spürte, wie die Leere der Verzweiflung sich wieder in ihr auszubreiten begann und ihr dabei alle noch verbliebene Kraft wie eine Pumpe entzog.
Am liebsten hätte sie sich einfach auf den Boden fallen lassen. Sie spürte, dass es ihr fast egal war, was aus ihr wurde. Unter Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft lächelte sie und sah wie zufällig zur Seite, wo ein weiterer Schreibtisch stand. Ihr Schreibtisch. Der sonst so penibel aufgeräumte Arbeitsplatz war überladen mit Post. Nicht nur im Eingangsfach, auch auf der breiten, grauen Unterlage in der Mitte stapelten sich Briefe, Broschüren und Kataloge. Sie alle mussten an sie persönlich gerichtet sein, denn die geschäftliche Post würde Braunsfeld nicht ungeöffnet herumliegen lassen, dazu war er zu gewissenhaft. Während Sibylle noch überlegte, wie sie es anstellen konnte, an die Briefe heranzukommen, fing Braunsfeld ihren Blick auf: »Oh, das ist der Schreibtisch meiner Angestellten. Eine sehr gute Mitarbeiterin, leider schon längere Zeit … krank. Da türmt sich schon mal schnell die Post. Aber nun kommen Sie, setzen Sie sich doch und lassen Sie uns sehen, womit ich Ihnen helfen kann.«
Sie sah in das runde Gesicht ihres Chefs.
Es macht ihm zu schaffen, dass seine Mitarbeiterin verschwunden ist. Er erkennt mich nicht. Sibylle Aurich ist verschwunden. Nicht ich. Nicht ich. Es ist zwecklos, er erkennt mich nicht.
»Ich … ähm, ich möchte mich über Lebensversicherungen informieren. Für später, zur Aufstockung der Rente. Das heißt, ich möchte mich nicht nur erkundigen, sondern auch etwas abschließen. Und da dachte ich mir, ein Versicherungsmakler kann mir das beste Preis-Leistungs-Verhältnis bieten. Weil Sie doch nicht an eine Gesellschaft gebunden sind.«
Sein Lächeln wurde breiter, was nicht weiter verwunderlich war. Sibylle wusste, dass er für die Vermittlung von Lebensversicherungen hohe Provisionen einstrich. Sie setzte sich auf einen der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch.
»Ach so, und ich hätte eine Bitte an Sie: Wissen Sie, mein Lebensgefährte wartet draußen, ich konnte ihn nicht überreden, mit reinzukommen, er ist skeptisch bei solchen Sachen, aber ohne ihn möchte ich nichts unternehmen. Schließlich betrifft ihn das ja auch irgendwie. Vielleicht könnten Sie … Ich meine, wenn Sie mit ihm reden, also als Fachmann …«
Einen Moment lang sah Braunsfeld sie überrascht an, doch dann kehrte sein Lächeln zurück. Er hatte ihr einmal gesagt, man müsste als Verkäufer verrückt sein, wenn man nicht auf die Wünsche eines verrückten Kunden einging. »Aber natürlich. Wo finde ich ihn?« Er zeigte zur Tür. »Direkt vor dem Haus? Warten Sie, das haben wir gleich.«
Sibylle sah ihm nach, bis die Tür hinter ihm von dem hydraulischen Mechanismus wieder zugezogen wurde, dann sprang sie hastig auf und war mit ein paar schnellen Schritten an ihrem Schreibtisch.
Nur eine halbe Minute.
Mit zitternden Fingern versuchte sie, ob sich die oberste Schublade des Schreibtisches öffnen ließ, und atmete erleichtert auf, als sie tatsächlich herausfuhr. Im hintersten Teil der Schublade, die sich nicht ganz herausziehen ließ, war ein kleines, schmales Fach abgetrennt, so schmal und tief, dass man nicht hineinsehen konnte. Mit klopfendem Herzen steckte sie die Hand hinein und tastete den Schubladenboden ab. Dabei ließ sie die Tür nicht aus den Augen. Schon nach wenigen Sekunden berührten ihre Fingerspitzen, wonach sie gesucht hatte. Schnell zog sie ihren Ersatzschlüssel für das Büro heraus und steckte ihn in die Hosentasche. Dann schloss sie die Schublade und huschte an ihren Platz zurück, gerade noch rechtzeitig, bevor die Tür sich öffnete und Braunsfeld wieder hereinkam.
»Es tut mir leid«, sagte er, während er auf sie zukam, »ich konnte draußen niemanden sehen, wo genau wartet Ihr Lebensgefährte auf Sie?«
»Ach«, sagte sie ein wenig außer Atem und stand auf, »wartet er etwa nicht mehr vor der Tür? Vielleicht ist er mit dem Wagen … Moment, ich gehe selbst mal nachsehen!«
Bevor der mittlerweile doch etwas misstrauisch dreinblickende Armin Braunsfeld etwas
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