Der Trakt
kann, um herauszufinden, was mit mir in diesen zwei Monaten passiert ist.«
Und was kann ich schon noch verlieren?
In seinem Blick glaubte sie Verzweiflung zu erkennen. »Und was heißt das?«
»Das heißt, ich werde nach München fahren.« Sie hoffte, dass er ihrer Stimme nicht anhörte, wie groß ihre Angst bei dem Gedanken daran war, und zum zweiten Mal an diesem Tag fragte sie Christian Rössler: »Kommst du mit?«
27
»Ich halte es noch immer für eine verrückte Idee.«
Sibylle reagierte nicht darauf. Sie löste am Automaten zwei Karten für die Strecke zum Regensburger Hauptbahnhof. Christian hatte in den fünfzehn Minuten, die sie für den Weg von Braunsfelds Büro bis zu dem kleinen Prüfeninger Bahnhof in der Schlossstraße gebraucht hatten, mehrmals versucht, ihr klarzumachen, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes einem Hirngespinst nachlief.
Sie griff in ihre Hosentasche, zog eine Handvoll zerknitterter Geldscheine heraus und suchte nach einem kleinen Schein, um die zwei Euro achtzig zu zahlen, die im Display für die fünfminütige Fahrt angezeigt wurden.
»Wo hast du das viele Geld her?«, fragte Christian, und seine Stimme klang dabei so erstaunt, dass Sibylle innehielt und ihn ansah.
»Von zu Hause, das ist mein Erspartes. Warum fragst du?«
»Nur so. Ich hatte ganz vergessen, dass du zwischenzeitlich schon zu Hause gewesen bist. Du hattest das Geld wahrscheinlich an einem sicheren Ort aufbewahrt, oder?«
»Du stellst komische Fragen«, antwortete sie und wandte sich wieder dem Automaten zu. Vorsichtig schob sie einen 5-Euro-Schein in den dafür vorgesehenen Schlitz, nachdem sie ihn ein wenig glattgezogen hatte.
»Wenn ich mir das so vorstelle – dein Mann erklärt dir, dass er nicht dein Mann ist, und obendrein noch, dass es den Jungen nicht gibt, den du suchst, und du hast die Nerven, dich in dieser Situation an ein Versteck zu erinnern und das Geld mitzunehmen? Das … das ist enorm.«
Sibylle hielt ihm eine der Fahrkarten entgegen und sagte: »Glaubst du mir etwa nicht?«
Christian lächelte für Sibylles Empfinden einen Tick zu viel. »Doch, natürlich glaube ich dir. Ich finde, dass du trotz dieser schrecklichen Situation sehr stark bist.«
»Lass uns gehen«, sagte sie und zeigte auf die große Uhr über einer Doppeltür, die hinaus zu den Gleisen führte, »noch vier Minuten.«
Sie kamen um 16 Uhr 08 nach einer kurzen, wortkargen Fahrt am Regensburger Hauptbahnhof an und standen fünf Minuten später am Schalter, wo sie erfuhren, dass die nächstmögliche Verbindung nach München ein Regionalexpress war, der um 16 Uhr 38 auf Gleis 9 abfahren und um 18 Uhr 11 am Münchener Hauptbahnhof ankommen sollte.
Sibylle zahlte auch die 46 Euro 60 für diese beiden Fahrkarten und reichte Christian eine davon. Er steckte sie ein und sagte: »Ich muss mal schnell zur Toilette.«
Sie deutete auf eine kleine Sitzgruppe aus gelben Plastikschalen, die zwar nicht sehr bequem aussahen, aber die einzige Sitzgelegenheit war, die sie entdecken konnte.
»Ich warte da vorne auf dich.«
Nur die äußere der sechs Schalen war besetzt. Ein kaugummikauendes Mädchen von vielleicht vierzehn Jahren saß darauf, einen pinkfarbenen Rucksack zu ihren Füßen und die Knöpfe eines Kopfhörers in den Ohren. Sie nickte mit dem Kopf zum Takt der Musik, die nur sie hören konnte.
Sibylle ließ einen Platz neben ihr frei und setzte sich, ohne dass das Mädchen Notiz von ihr nahm.
Sie ließ den Blick durch die Halle wandern, vorbei am Infopoint, der zentral in der Mitte der Halle lag, herüber zu der großen Verkaufshalle. Wie sehr beneidete sie diese Menschen, die kreuz und quer durch die Halle eilten oder vor den Regalen standen und die Dinge betrachteten, die sie zum Geldausgeben verführen sollten. Sie hatten ihre kleinen Sorgen, ärgerten sich über Nichtigkeiten und hatten dabei keine Ahnung davon, was es hieß, in wirklichen Schwierigkeiten zu stecken.
Hinter ihr fing ein Kind an zu brüllen, und sie wandte sich um. Eine junge Frau zog mit der einen Hand einen großen und offensichtlich schweren Koffer hinter sich her und mit der anderen einen schreienden Jungen, der sich immer wieder fallen ließ und mit Händen und Füßen versuchte, dem Griff seiner Mutter zu entkommen. Über ihrer Schulter lag der Riemen ihrer überdimensionalen Handtasche, der aber alle paar Sekunden über ihren Oberarm wieder herunterrutschte. Das Gesicht des Jungen war puterrot vom Schreien, und gerade versuchte er, seine Mutter
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