Der Trakt
Grinsen sehen können unter dem Mundschutz? Und wie konnte Speichel heraustropfen?
Noch während sie sich darüber Gedanken machte, verschwanden die Köpfe über ihr. Sie wurden nicht zurückgezogen, nein, sie waren im Bruchteil einer Sekunde einfach nicht mehr da. Und auch die Lampe über ihr war verschwunden. Es war wieder dunkel. »Vielleicht geht sie dabei drauf.« Wieder eine der dumpfen Stimmen. Dann jagte etwas durch ihren Kopf, das so unbeschreiblich grell und sengend heiß war, so unfassbar qualvoll, dass es sich nur um einen Blitz handeln konnte. Sie war ganz sicher, dass sie vom Blitz getroffen worden war. Obwohl sie in der folgenden Schwärze keinen Anhaltspunkt hatte, spürte sie ein starkes Schwindelgefühl. Es war, als würde der schräge Stuhl, auf dem sie saß, schneller und schneller um die eigene Achse gedreht. Sie musste sich übergeben und tat es einfach, ohne etwas von dem zu spüren, was aus ihrem Mund strömte. Mehrere der dumpfen Stimmen murmelten nun durcheinander, und es wurden immer noch mehr, es hörte sich furchtbar an und bereitete ihr Schmerzen, dann kristallisierte sich eine dieser Stimmen heraus, wurde klarer, verständlicher, jemand packte sie am Arm, die Stimme rief ihren Namen, wieder und wieder, lauter und lauter, sie hielt es nicht mehr aus, riss mit einem Schrei die Augen auf … und sah direkt in Christians besorgtes Gesicht.
»Sibylle! Geht es wieder?«
»Ja, doch.« Sie sah sich verwirrt um. Eine ältere Frau, die auf gleicher Höhe auf der anderen Seite des Abteils saß, gaffte sie ungeniert an.
Sie sah wieder zu Christian zurück und sagte: »Ich glaube, ich hatte einen Albtraum.«
»Was hast du geträumt?«
Es war so wirr, dass sie es nicht erzählen wollte. »Ich weiß nicht mehr genau, irgendwas von Männern, die mir was antun wollten. Und von einem grellen Blitz, der mich getroffen hat.«
»Kannst du dich sonst noch an etwas erinnern?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, an sonst nichts. Ich … ich weiß eigentlich nur noch, dass es schrecklich war.« Sie warf wieder einen Blick zu der Frau, die sie noch immer anstarrte, und fragte Christian: »Habe ich etwa … geschrien oder …?«
»Ja. Erst hast du aufgestöhnt, und als ich dich geweckt habe, hast du einen wirklich lauten Schrei von dir gegeben. Ich glaube, den hat der Zugführer auch gehört.«
Er deutete ein Grinsen an, und auch Sibylle verzog den Mund ein wenig.
Draußen vor dem Fenster bot sich das gewohnte Bild. Vorbeifliegende Bäume, hier und da ein Strommast, Kühe.
»Wie lange habe ich geschlafen?«
Christian sah auf seine Armbanduhr. »Eine Dreiviertelstunde, ungefähr.«
»Oh … Dann müssten wir ja bald da sein, oder?«
»Ja, noch etwa zwanzig Minuten.«
Sie wischte sich über die Stirn und stellte fest, dass sie verschwitzt war. Christian beugte sich nach vorne und legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Alles okay?«
»Ja, alles in Ordnung. Ich glaube, das letzte Mal, dass ich einen richtigen Albtraum hatte, war in meiner Kindheit.«
»Ist doch kein Wunder, dass du schlimme Träume hast, wenn man bedenkt, was du in den letzten beiden Tagen Fürchterliches erlebt hast.«
»Ja, das ist wohl wahr«, sagte sie und dachte:
Und was ich hoffentlich nicht noch Fürchterliches erleben muss.
32
Das Gleis, auf dem sie in die Halle des Münchener Hauptbahnhofs einfuhren, war eine Sackgasse und endete an einem Prellbock. Gleich dahinter begann der weitläufige Bereich der Shops und Kioske, der Snack- und Getränkestände.
Als sie ausgestiegen waren und in Richtung der Ausgänge am Zug vorbeiliefen, kamen sie an einer Raucherinsel vorbei. Das war nichts anderes, als ein mit gelber Farbe auf den Boden gemalter Kreis mit einem Durchmesser von vier oder fünf Metern und einem hohen Tisch in der Mitte, in den ein großer Aschenbescher eingelassen war:
Smoking Area.
Als Sibylle die Leute sah, die um den Aschenbecher herumstanden und gierig an den qualmenden Stängeln saugten, spürte sie das spontane Bedürfnis, eine Packung Zigaretten aus der Tasche zu ziehen und sich dazuzustellen.
Sie blieb stehen und starrte auf den Aschenbecher.
»Was ist los?«, fragte Christian, der schon ein paar Meter weitergegangen war und nun wieder zu ihr zurückkam.
»Ich … ich rauche.«
»Was?«
»Ich meine, ich bin … eigentlich eine ziemlich starke Raucherin«, sagte sie, den Blick wieder auf den Aschenbecher gerichtet.
Christian schüttelte den Kopf und fasste sie am Oberarm an, um sie
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