Der Trakt
sich nach vorne und weinte hemmungslos.
Es dauerte nicht lange, und Rosie kam zu ihr. Sie stellte sich neben Sibylle, drückte ihren Kopf sanft gegen ihren weichen Bauch und stich ihr über die Haare.
»He, Kindchen. Das ist eine schlimme Geschichte, aber du bist jetzt nicht mehr alleine. Die alte Rosie wird dir helfen. Ich bin schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden.«
Langsam ließ Sibylle die Hände sinken und sah zu ihr hoch. Ein Schleier aus Tränen lag noch auf ihren Augen, so dass sie für ein paar Sekunden lang nur eine verwaschene helle Fläche mit einer feuerroten Wolke darüber sah.
»Du wolltest mir noch was erzählen, Rosie.«
»Ja, stimmt. Ich weiß nicht, ob es ein Fehler war, aber … Als ich vor dem Gebäude gesehen habe, wie dich diese Kerle bedrohen, da hab ich Grohe angerufen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich meine, wenn ich nun die Münchener Polizei angerufen hätte, wer weiß, ob die überhaupt etwas unternommen hätten! Ich dachte, wenn ich Grohe informiere, dann wird der schon alles Nötige in die Wege leiten. Hoffentlich war das kein Fehler.«
Sibylle dachte darüber nach. »Ich weiß es nicht, aber eigentlich kann es nicht verkehrt gewesen sein. Gott sei Dank hast du ja mit Grohe gesprochen und nicht mit Wittschorek. Wenn der Oberkommissar die Münchener Polizei informiert, ist das umso besser. Wittschorek weiß sowieso, dass ich hier bin, also mach dir keine Sorgen, du hast nichts falsch gemacht.«
Sie konnte die Erleichterung in dem rundlichen Gesicht förmlich sehen.
»Und was … was war das mit deinem Mann, Rosie?«
»Ach, das ist doch jetzt nicht wichtig. Wir müssen uns jetzt überlegen, was wir mit dem Kerl da anstellen.«
»Bitte«, sagte Sibylle.
Rosie warf einen schnellen Blick in das Zimmer und lehnte die Tür an, als sie zurückkam. Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und sah Sibylle unschlüssig an.
»Wir haben einige Jahre versucht, ein Kind zu bekommen, erfolglos. Die Ärzte behaupteten, wir wären beide gesund und sollten uns keinen Stress machen, dann würde es schon werden. Aber es klappte einfach nicht. Irgendwann haben wir die Hoffnung aufgegeben. Gerhard hatte schon immer gerne ein Glas Bier getrunken, aber mit den Jahren wurde ein regelmäßiges Besäufnis daraus. Er hat angefangen, mich zu beschimpfen, wenn er aus der Kneipe nach Hause kam, und eines Abends hat er mir ins Gesicht geschlagen, als ich mich beschwert hab, dass er schon wieder betrunken war. Und dann … Ich wollte mich von ihm trennen, aber genau zu diesem Zeitpunkt war ich plötzlich schwanger. Ich dachte, das könnte unsere Ehe retten und ihn dazu bringen, mit der Trinkerei aufzuhören, aber das war leider nicht so. Anstatt sich darüber zu freuen, hat er wortlos das Haus verlassen und war erst zwei Tage später wieder da – sturzbesoffen, hat Streit angefangen, hat behauptet, das Kind wäre nicht von ihm, er könnte keine Kinder zeugen. Ich hab ihm natürlich gesagt, dass das Blödsinn ist, aber er war in seinem Suff nicht davon abzubringen. Hure hat er mich genannt und untreue Schlampe, und geschlagen hat er mich auch wieder. Ich war furchtbar wütend über seine Ungerechtigkeit und konnte mich nicht gegen ihn wehren. Und irgendwann, als er einfach nicht aufhörte, wollte ich ihm nur noch weh tun. Ich habe in sein verquollenes, versoffenes Gesicht gesehen und gesagt, er hätte recht, ich hätte mit einer ganzen Horde von Kerlen geschlafen, während er nachts grölend durch die Kneipen getorkelt war, mit so vielen, dass ich gar nicht mehr wüsste, wer alles als Vater in Frage kam.« Rosie holte mit geschlossenen Augen sekundenlang tief Luft. »Da hat er mir in den Bauch getreten. Nicht nur einmal, sondern mehrmals, als ich schon auf dem Boden lag. Er hat mir das, was erst gerade im Begriff war, zu unserem Kind zu werden, aus dem Bauch getreten.« Sie stockte und senkte den Kopf.
»Oh mein Gott«, sagte Sibylle, und in diesem Moment hatte sie ihre eigene Situation ganz vergessen.
Oh mein Gott.
»Im Krankenhaus haben sie mir gesagt, ich werde kein Kind mehr bekommen können. Als sie mich gefragt haben, was passiert ist, hab ich das Gleiche erzählt, wie wahrscheinlich schon tausende Frauen vor mir, die Geschichte von der Treppe, die ich runtergefallen bin.«
»Aber warum? Warum hast du das Schwein nicht angezeigt?«
Sibylle sah die Tränen, die in Rosies Augen standen. Es war ein erschütternder Anblick, diese Frau so zu sehen.
»Weil es meine Schuld war«,
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