Der Traum der Hebamme / Roman
auch wenn er sie nur einmal gesehen hatte; und diese hier hatte er schon gesehen. Aber wo?
»Ihr traft uns vor Akkon, Graf, als Ihr gemeinsam mit dem Herzog von Schwaben unseren Fürsten Ludwig aufsuchtet, Gott sei ihren Seelen gnädig«, ergriff der Älteste das Wort und bekreuzigte sich. Dabei sah Dietrich, dass ihm drei Finger an der rechten Hand fehlten, und sofort hatte er das Bild wieder vor Augen: Gleich nach ihrer Ankunft im von Hunger und Seuchen geplagten fränkischen Lager waren er und Friedrich von Schwaben zum todkranken thüringischen Anführer des Heeres gegangen, der nur noch auf diesen Moment gewartet hatte, bevor er die Heimreise antrat und wenige Tage später auf Zypern starb. Diese Männer – damals furchtbar abgemagert und mit blutendem Zahnfleisch – hatten vor dem Zelt gewacht und, wie er später erfuhr, mit Thomas und Roland ein schonungslos offenes Gespräch über das Versagen des einstigen Königs von Jerusalem geführt, Guido von Lusignan.
»Bruno von Hörselberg«, stelle sich der alte Ritter vor. Den Mann neben ihm erkannte Dietrich am Wappen, einem Widderhorn.
»Hermann von Salza?«, vergewisserte er sich.
Dieser, etwa im gleichen Alter wie der Graf, nickte. »Lukas musste uns nicht erst lange überzeugen, Euch zur Seite zu stehen. Verdammt will ich sein, wenn wir tatenlos zusehen, dass jemand einen Pilgerfahrer angreift, der wie wir im Heiligen Land gekämpft und gelitten hat!«
»Dafür danke ich Euch«, sagte Dietrich mit ehrlicher Freude. »Geht und lasst Euch von meinem Verwalter ein Quartier zuweisen und etwas zur Stärkung geben! Und vom Burgkommandanten Knappen zuteilen. Ihr durftet keine mitnehmen, wie ich sehe.«
Marthe und Lukas bat er, ihn zu begleiten.
Er führte die beiden Gäste hinauf in seine Kammer und wies einladend auf die Bank, damit sie sich setzten. Ein Diener schenkte ihnen Wein ein und zog sich auf ein Zeichen seines Herrn zurück. Dietrich allerdings sah erst noch einmal aus dem Fenster, bevor auch er zum Tisch kam. Lukas ahnte, wonach er Ausschau hielt.
Der Graf von Weißenfels hob seinen Becher. »Auf das Seelenheil derer, die nicht aus dem Heiligen Land zurückgekehrt sind«, sagte er düster. »Und darauf, dass heute kein neues Blutvergießen beginnt!«
Sie tranken, für eine Weile sagte niemand ein Wort. Jeder von ihnen hatte tausend Fragen auf dem Herzen, dennoch spürte jeder von ihnen, dass jetzt nicht der Moment dafür war.
Bis Dietrich die Stille zerriss: »Ist es wahr, was man sich über Tusculum erzählt?«
Lukas nickte mit finsterer Miene. »Wenn Ihr damit meint, dass Heinrich von Staufen den Ort niederbrennen und dem Erdboden gleichmachen ließ, in dem bisher jede Gesandtschaft aus dem Kaiserreich Quartier genommen, in dem jede staufische Streitmacht vor Rom ihr Lager aufgeschlagen hat, nur um zum Kaiser gekrönt zu werden – ja, es ist geschehen! Das war der Preis, den der Papst forderte, und Heinrich hat ihn ohne Zögern bezahlt.«
Das Ungeheuerliche hatte sich während des Osterfestes ereignet. Und das erbarmungslose Ende jenes kleinen, einst dem Kaiser zuverlässig ergebenen Ortes vor Rom, der dem Papst schon lange ein Dorn im Auge war, rief selbst in der staufertreuen Ritterschaft Ablehnung hervor.
Dietrich starrte für einen Augenblick auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne, dann hieb er mit der flachen Hand auf den Tisch – ein unerwartet heftiger Gefühlsausbruch, denn im Gegensatz zu seinem Vater und seinem Bruder galt der Graf von Weißenfels als Vorbild an Beherrschung und höfischem Benehmen.
»Im Heiligen Land habe ich unter Christen so viel Verrat, so viel Unfähigkeit und Gier erlebt, dass es selbst dem Hartgesottensten die Kehle zuschnürt«, sagte er, und seine Stimme bebte vor Zorn. »Jetzt bin ich zurück, und als Erstes höre ich, dass mein eigener Bruder auf Kriegszug gegen mich reitet und mein oberster weltlicher Lehnsherr sein Kaisertum auf einer so schändlichen Tat begründet. Kein Wunder, dass Gott sich von uns abwendet, dass er uns den Weg nach Jerusalem versperrt!«
In Dietrichs Gesicht stand so viel Abscheu, wie Lukas es bei ihm nur einmal vor vielen Jahren gesehen hatte: im Krieg gegen Heinrich den Löwen, bei der Begegnung mit den Brabanzonen, dem berüchtigsten Söldnerheer der christlichen Welt, das ausgerechnet ein Erzbischof in Sold genommen hatte.
»Wie soll ich einem Kaiser Gefolgschaft leisten, der solch eine Schuld auf sich geladen hat?«
Da steckst du in derselben Klemme wie ich,
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