Der Traum der Hebamme / Roman
gab das Zeichen zum Aufbruch. An der Spitze seiner Kämpfer ritt er durch das Tor, so schnell es in dem Gewimmel möglich war, gefolgt von den sechs Thüringern.
Von Furcht und Hoffnung zerrissen, blickten die Zufluchtsuchenden der Reitergruppe nach.
Lukas überzeugte sich davon, dass genügend Männer am Tor standen, um das Fallgitter schnell herabzulassen, wenn es nötig wurde, dann verabschiedete er sich mit einem Blick von Marthe und stieg auf den Turm. Es herrschte klare Sicht an diesem kühlen Herbsttag, die Sonne schimmerte durch die Wolken. So konnte er sehen, wie sich die Weißenfelser an der Furt unter Dietrichs Kommando formierten, während sich von Norden her eine große Gruppe Berittener rasch näherte – eine mindestens fünffache Überzahl.
Gott steh euch bei!, betete er stumm in Gedanken an Dietrich und Thomas. Ihr werdet doch nicht nach all den blutreichen Schlachten von Outremer zurückgekehrt sein, um nach der Ankunft hier erschlagen zu werden!
Marthe wandte sich unterdessen an eine stämmige, ältere Frau mit straff sitzendem Gebende – Gertrud, die Frau des Verwalters. »Wo hat meine Tochter das Krankenlager eingerichtet?«
Gertrud wies mit dem Arm auf ein Gebäude neben den Stallungen. »Dort. Braucht Ihr noch ein paar Leute, die Euch zur Hand gehen?«
Marthe nickte erleichtert und wollte schon weiter, doch etwas ließ sie stocken.
Einige Schritte vor sich hörte sie jemanden wehklagen: »Kaum ist der Herr aus der Fremde zurück, gibt es Krieg. Und wie viele von unseren Männern wird er diesmal verlieren? Das Unheil hat sich an seine Fersen geheftet!«
Ein paar Stimmen murmelten Zustimmung.
Marthe blieb stehen und hielt Ausschau nach der Ruferin, einer mageren Frau mit fahlem Gesicht, die drei Kinder um sich geschart hatte.
Wenn sie Dietrich die Schuld geben am Tod seiner Männer und an Albrechts Angriff, dann ist alles verloren, dachte sie.
»Seid still!«, fuhr sie die Frauen an und sah der Ruferin streng in die Augen. »Betet lieber darum, dass Graf Dietrich euch schützt, und seid dankbar für seinen Mut! Er setzt gerade am Fluss sein Leben für euch ein. Wenn dieses Land unter die Herrschaft Albrechts von Wettin fällt, lasst alle Hoffnung fahren. Dort seht ihr, was euch dann erwartet!«
Anklagend wies sie auf die Rauchsäulen im Norden. Sie starrte der blassen Frau ins Gesicht, die hastig den Blick senkte und einen halben Schritt zurückwich.
Ich muss die Gruppe zerstreuen, bevor solche Stimmung um sich greifen kann, dachte Marthe. Uns steht eine längere Belagerung bevor, wenn nicht an der Furt ein Wunder geschieht – und wenn Dietrich nicht fällt, was Gott verhindern möge. Sie unterdrückte den Gedanken, dass ihr Sohn dann wohl an Dietrichs Seite sterben würde.
»Komm mit und hilf mir, für die Verwundeten Leinen in Streifen zu reißen!«, forderte sie die dürre Frau auf. »Und deine Kinder schick ins Backhaus. Sie sehen hungrig aus, sie sollen sich etwas zu essen geben lassen.«
Diese Ankündigung zauberte einen frohen Ausdruck auf das Gesicht des ältesten der drei Kinder, eines etwa fünfjährigen Jungen mit tränenverschmierten Wangen.
»Kommt«, sagte er und nahm seine Geschwister bei den Händen. »Die feine Herrin sagt, wir kriegen etwas zu essen!«
Ohne erst noch einmal nach seiner Mutter zu sehen, zerrte er die Kleinen zielstrebig Richtung Backhaus, glücklich über die Aussicht auf einen Bissen Brot.
Marthe drehte sich um und zog Gertrud zu sich. »Die Menschen müssen beschäftigt werden, sonst fürchten sie sich zu sehr«, sagte sie leise zu ihr.
»Wie sollen sie sich auch nicht fürchten?«, platzte die Frau des Verwalters so verzweifelt heraus, dass Marthe ihr befahl zu schweigen und sie aus dem Gewühl zu einem ruhigeren Ort führte.
Dort erst ließ sie Gertrud weiterreden.
»Wir haben so etwas noch nie erlebt!«, jammerte diese. »Ich kann zwar die Vorräte berechnen und die Arbeit einteilen bei normaler Mannschaftsstärke auf der Burg, auch eine größere Zahl von Gästen unterbringen und bewirten …« Sie drehte sich um und wies auf die vielen Menschen, die auf dem Burghof durcheinanderrannten oder sich wehklagend in den Armen lagen. »Ich weiß ja nicht einmal, wie viele es sind … Geschweige denn, wo ich sie unterbringen soll und wie lange wir sie wohl verpflegen können!«
Schweren Herzens beschloss Marthe, das Wiedersehen mit ihrer Tochter noch etwas aufzuschieben. Clara würde vorerst schon allein zurechtkommen. Wichtiger war
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