Der Traum der Hebamme / Roman
so viel konnte er von hier aus sehen.
Jemand trat zu ihm – zu seiner Überraschung Marthe.
»Bringen sie Verwundete?«, fragte sie und hielt ebenfalls Ausschau. »Clara hat schon ein Krankenlager eingerichtet. Aber wenn es viele sind, hole ich noch ein paar Helfer dazu.«
Lukas mühte sich, das in der Reiterschar auszumachen. »Ein halbes Dutzend vielleicht«, schätzte er anhand dessen, wie viele Körper über die Sättel gelegt waren oder von Reitern gestützt wurden.
»Wie hält sie sich?« Er hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt, seine Stieftochter zu begrüßen. Doch so übel Albrechts Angriff auch sein mochte – das Gute daran war, dass sich damit Dietrichs außergewöhnliche Heiratspläne zerschlagen hatten. Angesichts dieser Übermacht blieb ihm gar nichts anderes übrig, als auf das Angebot des Thüringer Landgrafen einzugehen. Besser so, als dass er Clara einen Floh ins Ohr setzt und sie ins Unglück stürzt, dachte Lukas, der seine Stieftochter sehr mochte.
»Clara macht ihre Sache gut«, meinte Marthe. »Aber die Frau des Verwalters … Sie ist keine zuverlässige Hilfe in dieser Lage.« In knappen Sätzen erzählte sie ihm von dem Vorfall vorhin.
»Dann wirst du hier nicht nur als Heilerin gebraucht«, meinte Lukas besorgt. »Nimm die Sache in die Hand, wenn Gertrud das nicht kann. Kümmere dich um die Frauen und Kinder! Wir müssen uns auf eine längere Belagerung einstellen und können uns so etwas nicht leisten.«
Er spähte nach unten, um das Kommando zu geben, wann die Zugbrücke hochgeklappt und das Gitter herabgelassen werden sollte.
Schon passierte Dietrich das Tor. Nach ihm preschten auch die anderen Reiter auf den Hof, dicht gefolgt von den Bogen- und Armbrustschützen. Krächzend flatterten angesichts des unvermittelt eintretenden Lärms ein paar Raben hoch, die sich auf dem Bergfried versammelt hatten.
Während Norbert mit seinem Kommando und den Gefangenen als Letzter auf den Burghof ritt, waren Marthe und Clara bereits bei den vorderen Reitern und riefen ein paar kräftige Knechte heran, die die Verwundeten in das Krankenlager bringen sollten. Zeit, um mit Thomas zu reden, blieb ihnen nicht. Nur mit einem kurzen Blick konnten sie sich vergewissern, dass er unverletzt war.
Nun wurde die hölzerne Brücke vor dem Tor an starken Seilen hochgezogen, das Fallgitter rasselte herab.
»Wir haben fast ein Drittel der Angreifer an der Furt vernichten können«, rief Dietrich aus dem Sattel über den Burghof. »Doch es sind immer noch beinahe zweihundert Mann. Stellt Brandwachen auf und räumt den Hof. Alle Kämpfer in die Wehrgänge!«
Er saß ab und verteilte seine Männer mit ein paar knappen Gesten.
»Sie kommen den Berg herauf«, rief Lukas, der seinen Beobachtungsposten am Tor nicht aufgegeben hatte.
»Alle Mann in die Wehrgänge!«, brüllte Norbert. »Schafft die Pferde weg! Die besten Bogenschützen auf den Turm! Und ihr dort, sofort weg vom Hof!«
Einige Frauen hatten sich wieder aus den Gebäuden gewagt, um zu sehen, wer von den Männern zurückkehrte.
»Sie zünden unsere Häuser an!«, schrie eine von ihnen und zeigte Richtung Tauchlitz. Auch von dort stiegen Rauchwolken zum Himmel.
Lautes Wehklagen setzte ein.
»Geht in die Halle!«, schrie Lukas. »Oder wollt ihr von einem Brandpfeil getroffen werden?«
Das zeigte Wirkung, sofort hasteten die Frauen wieder unter das schützende Dach. Lukas fragte sich, wie viel Unruhe sie mit der Schreckensnachricht wohl drinnen stiften würden. Am liebsten hätte er Marthe dorthin geschickt, aber die Verletzten hatten Vorrang.
Binnen kurzer Zeit war der Burghof leer bis auf ein paar kräftige Knechte, die Eimer um Eimer aus dem Brunnen holten, um alle verfügbaren Gefäße mit Wasser zu füllen, und mehrere Frauen, die über einem Feuer einen großen Kessel Wasser zum Sieden brachten, das auf die Angreifer gegossen werden konnte. Im Turm wurde Pech für Brandpfeile erhitzt. Der würzige Geruch nach Harz drang bis zu Lukas und erinnerte ihn an jede einzelne Belagerung, die er bisher hatte miterleben müssen.
Von seinem Posten aus versuchte er zu zählen, wie viele Männer Albrecht nun noch zur Verfügung hatte. Doch vorerst konnten die nicht viel unternehmen, denn sie hatten weder Sturmleitern noch Wurfmaschinen bei sich.
Du irrst dich, wenn du glaubst, du könntest hier einfach so hereinspazieren, dachte er mit wütendem Blick auf Albrecht, der an der Spitze seiner Männer ritt. Mal sehen, wie viele Tage du es
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