Der Traum der Hebamme / Roman
»Wenn wir durch dieses Tor stürmen, werde ich dich finden. Dich« – und nun glaubte er, seinen besten Triumph auszuspielen – »und deine Hure von Schwester!«
Schlagartig herrschte Totenstille auf der Weißenfelser Burgmauer, was Rutger ermutigte fortzufahren: »Vor zwei Jahren wollte ich sie mir holen, aber da hat ja der Reinhardsberger auf Schritt und Tritt über sie gewacht. Doch der ist jetzt tot, und mit deinem abgeschlagenen Kopf in der Hand werde ich ihr zeigen, was ein richtiger Kerl ist!«
Nun richteten sich alle Blicke auf Thomas. Wie würde er auf diese Ungeheuerlichkeit reagieren?
»Du Ratte hast sie damals nicht gekriegt, und solltest du es jetzt versuchen, wird sie dir eigenhändig die Eier abschneiden, auch wenn eine Dame so etwas nur in Ausnahmefällen tut.«
Thomas legte eine winzige Pause ein und ergänzte dann erstaunlich gut gelaunt: »Ich glaube, in dieser Situation wäre es angemessen.«
Die Männer auf dem Turm und auch die Frauen, die die Unterredung mitverfolgt hatten, prusteten vor Lachen.
»Und bevor ich
dir
den Kopf abschlage, wirst du die
Herrin von Reinhardsberg
um Vergebung für diese Beleidigung bitten, und zwar auf allen vieren!«
Das klang nun ganz und gar nicht mehr spöttisch, sondern unerbittlich.
Wütend, weil ihm keine passende Entgegnung einfiel, wollte Rutger seinen Hengst umlenken, doch Thomas rief ihn zurück.
Würde er auf den Zweikampf eingehen? Rutger hoffte es, um die unerwartete Niederlage noch ins Gegenteil verkehren zu können.
»Bursche, wenn du auf deinem gestohlenem Pferd zu deinen hässlichen Kumpanen zurückreitest, dann richte ihnen aus, sie haben etwas missverstanden«, rief Thomas und blickte in die Runde. »Wir bepissen uns nicht, schon gar nicht vor Angst wegen euch paar Versagern! Aber …«
Er zögerte seine nächsten Worte mit Absicht etwas hinaus, sah in Rutgers wütendes Gesicht und schlug mit schnellem Griff Kettenhemd und Gambeson hoch.
»Aber … ich pisse auf dich, du Hurensohn und Schande für jeden anständigen Ritter!«
Der helle Strahl, der sich vom Turm herab auf den Reiter ergoss, wurde zwar vom Wind auseinandergetrieben, dennoch kam genug am anvisierten Ziel an, um Rutgers Haar und seinen Gambeson unter dem Kettenhemd zu durchnässen. Das aus vielen Stofflagen bestehende Kleidungsstück würde nun aufquellen und lange stinken.
Unter dem Hohngelächter der Weißenfelser gab Rutger seinem prachtvollen Pferd die Sporen, so dass Blut über das Fell des Hengstes spritzte.
Nun wieder mit bedecktem Leib, drehte sich Thomas zu den Menschen um, die seine Vorführung miterlebt hatten.
»Das war jetzt vielleicht nicht gerade ritterlich«, sagte er mit gespielter Zerknirschung und deutete auf die Stelle, die eben noch einen anstößigen Anblick geboten hatte. »Dafür aber ehrlich. Es kam sozusagen aus meinem tiefsten Inneren.«
Nun brach schallendes Gelächter angesichts dieser Doppeldeutigkeit aus, das Thomas mit ausgebreiteten Armen wie ein Gaukler entgegennahm und sich sogar verbeugte.
»Von ganzem Herzen!«, ergänzte eine rundliche Frau mit sich überschlagender Stimme und japste nach Luft vor lauter Lachen.
Thomas sah an sich herab. »Nein, Mütterchen, so tief ist mir das Herz noch lange nicht gerutscht«, erwiderte er.
Die lärmende Heiterkeit um den schmählichen Abzug des meißnischen Ritters hatte unter den Zeugen des Vorfalls die Anspannung gelöst. Norbert wies sofort an, Bier und Brot auszuteilen.
Doch das war nur eine Ablenkung. Er und Thomas hatten sich mit ein paar Blicken verständigt und holten unauffällig auch Kuno, Bertram und Marthe aus dem Menschenauflauf. Was sie soeben durch Rutger erfahren hatten, erforderte, dass sie sich sofort berieten und einige Entscheidungen trafen.
Im Lager des Feindes
D er Lärm, der vom Hof durch das schmale Fenster in Norberts Kammer drang, bezeugte den dort Versammelten, dass die Geschichte von Thomas’ demütigender Antwort an den Herausforderer draußen die Runde machte und weiter für Belustigung sorgte.
»Guter Auftritt«, lobte Norbert, ohne dass der Ernst aus seinen Zügen wich. »Es macht den Leuten Mut, wenn sie über die Feinde lachen können.«
»War mir ein Vergnügen«, entgegnete Thomas mit knappem Lächeln. Doch Marthe konnte er nicht täuschen. Der Hang zu Spott, die Schlagfertigkeit und Leichtigkeit, die früher zu seinem Wesen gehört hatten und die er gerade eben vor allen gezeigt hatte, waren jetzt nur noch gespielt. Hinter dieser Maske verbarg
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