Der Traum des Kelten
neuer Posten mit sich bringen würde. Michell, ein beleibter, lebhafter Mittvierziger, dessen Gesten und Gebärden ebensolche Energie verrieten, wie seine Frau sie an den Tag legte, notierte sich alles in einem kleinen Heft und stellte Roger von Zeit zu Zeit kurze Zwischenfragen. Als sie das Gespräch beendet hatten, zeigte er sich weder bedrückt, noch beklagte er sich, sondern kündigte mit einem breiten Lächeln an: »Gut, jetzt weiß ich, wie die Dinge stehen, ich bin bereit für den Kampf.«
In den beiden letzten Wochen in Iquitos wurde Roger wieder einmal von dem übermächtigen Dämon der Lust überkommen. Bei seinem vorangegangenen Aufenthalt hatte er sich überaus vorsichtig verhalten, doch dieses Mal konnte ihn selbst das Wissen um die allgemeine Feindseligkeit gegen seine Person nicht davon abhalten, nachts über die Uferpromenade zu schlendern, wo weibliche wie männliche Prostituierte nach Kundschaft Ausschau hielten. Dort lernte er Alcibíades Ruiz kennen, wenn dies sein richtiger Name war. Roger nahm ihn mit ins Hotel Amazonas. Der Nachtwächter hatte nichts dagegen, nachdem Roger ihm ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatte. Roger zeigte Alcibíades Posen griechischer Statuen, die dieser für ihn einnahm. Nach einer kurzen Verhandlung willigte er ein, sich auszuziehen. Alcibíades war ein Cholo , ein Mestize mit indianischem und weißem Blut. Roger schrieb in sein Tagebuch, diese Mischung habe eine außerordentlich schöne männliche Gestalt hervorgebracht, die sogar die der brasilianischen Caboclos noch übertreffe, in deren exotisch angehauchten Gesichtszügen sich die liebliche Sanftheit der Eingeborenen und die kantige Männlichkeit der europäischen Nachfahren vermischten. Er küsste und berührte Alcibíades, doch sie gingen nicht zum Liebesakt über. Auch nicht amnächsten Morgen, als Alcibíades erneut ins Hotel Amazonas kam und Roger ihn nackt fotografierte. Als er wieder fort war, notierte Roger: »Alcibíades Ruiz. Cholo . Die Bewegungen eines Tänzers. Schmal und lang, erregiert gewölbt wie ein Bogen. Er drang in mich ein wie eine Hand in den Handschuh.«
Eines Tages wurde Rómulo Paredes auf der Straße angegriffen. Er kam gerade aus der Druckerei seiner Zeitung, als drei nach Alkohol stinkende, finstere Zeitgenossen sich auf ihn stürzten. Wie er Roger erzählte, den er unmittelbar nach dem Vorfall in seinem Hotel aufsuchte, wäre er wohl erschlagen worden, hätte er nicht einen Revolver bei sich getragen, mit dem er in die Luft geschossen und die drei Angreifer in die Flucht geschlagen habe. Paredes war so aufgelöst, dass er nicht einmal mit Roger nach unten in eine Bar gehen wollte. Seine Verbitterung und Empörung über die Peruvian Amazon Company waren grenzenlos.
»Ich habe mich dem Hause Arana gegenüber immer loyal gezeigt und ihnen jeglichen Gefallen erwiesen«, klagte er. Sie saßen auf dem Bettrand und redeten halb im Dunkeln, denn die kleine Flamme der Lampe erhellte nur einen Winkel des Zimmers. »Als ich noch Richter war, und auch als ich El Oriente gründete. Nie habe ich mich ihren Forderungen widersetzt, auch wenn es mir oft auf dem Gewissen lastete. Aber ich bin ein Realist, Herr Konsul, ich weiß, welche Schlachten nicht zu gewinnen sind. Ich wollte die Mission nicht annehmen, im Auftrag von Richter Valcárcel nach Putumayo zu fahren. Vom ersten Moment an wusste ich, dass mich das in Schwierigkeiten bringen würde. Aber man hat mich gezwungen. Pablo Zumaeta selbst hat es von mir verlangt. Ich habe diese Reise auf seinen Befehl hin angetreten. Bevor ich dem Präfekten meinen Bericht gab, habe ich ihn Señor Zumaeta vorgelegt. Er hat ihn mir kommentarlos zurückgegeben. Hieß das etwa nicht, dass er einverstanden damit war? Erst dann habe ich ihn dem Präfekten überreicht. Und jetzt stellt sich heraus, dass man mir den Krieg erklärt hat und mich umbringen will. Dieser Überfall war eine Warnung, damit ich michaus Iquitos verziehe. Aber wohin denn bitte? Ich habe eine Frau, fünf Kinder und zwei Dienstmädchen, Señor Casement. Haben Sie schon einmal etwas so Undankbares gesehen wie diese Leute? Ich rate Ihnen, so bald wie möglich das Weite zu suchen. Ihr Leben ist in Gefahr, Sir Roger. Bis jetzt ist Ihnen nichts passiert, weil sie glauben, es würde eine internationale Krise auslösen, wenn sie einen Engländer töten, noch dazu einen Diplomaten. Aber trauen Sie dem nicht. Solche Skrupel können sich beim nächsten Besäufnis in Luft auflösen. Hören Sie auf
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