Der Traum des Kelten
ruhig. Von dort aus sollte er auf der SS Terence nach New York reisen, das Foreign Office hatte eine Passage für ihn reserviert. Die britischen Behörden hatten beschlossen, entschieden gegen die Peruvian Amazon Company vorzugehen, und wollten die Vereinigten Staaten dazu bringen, sich anzuschließen, um gemeinsam bei der peruanischen Regierung Protest wegen ihrer mangelnden Bereitschaft einlegen zu können, den Forderungen der internationalen Gemeinschaft nachzukommen.
Während Roger in Bridgetown auf das Ablegen des Schiffes wartete, lebte er so enthaltsam wie in Manaus. Kein Abstecher in die öffentlichen Bäder, keine nächtlichen Abenteuer. Seine Phasen sexueller Abstinenz dauerten manchmal mehrere Monate, während deren er sich viel mit der Religion beschäftigte. In Bridgetown besuchte er täglich Pater Smith, und sie führten lange Unterhaltungen über das Neue Testament, das Roger auf seine Reisen mitzunehmen pflegte. Er las abwechselnd die Bibel und irische Dichter, vor allem William Butler Yeats, dessen Gedichte er zum Teil auswendig kannte. Er besuchte den Gottesdienst im Konvent der Ursulinen, und wie schon des Öfteren überkam ihn der Wunsch, die heilige Kommunion zuempfangen. Als er dies Pater Smith anvertraute, lächelte der Pater und erinnerte ihn daran, dass er kein Katholik, sondern Mitglied der anglikanischen Kirche sei. Er erbot sich allerdings, ihm beizustehen, sollte er konvertieren wollen. Roger war beinahe versucht, es zu tun, doch als er an die Schwächen und Sünden dachte, die er seinem guten Freund Pater Smith in diesem Fall würde beichten müssen, sah er doch lieber davon ab.
Am 31. Dezember legte die SS Terence mit Kurs auf New York ab, wo er sofort einen Zug nach Washington, D. C., bestieg, ohne auch nur die Wolkenkratzer zu besichtigen. Der britische Botschafter, James Bryce, überraschte ihn mit der Nachricht, der Präsident der Vereinigten Staaten, William Howard Taft, werde ihn empfangen. Der Präsident und seine Berater wollten aus dem Munde Sir Rogers, der selbst in Putumayo gewesen sei und das Vertrauen der britischen Regierung genieße, mehr über die Situation in den Kautschukstationen wissen und in Erfahrung bringen, ob die Kampagnen verschiedener Kirchen, Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und liberalen Publikationen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien auf wahren Tatsachen basierten oder reine Demagogie und Übertreibung waren, wie die Kautschukunternehmen und die peruanische Regierung behaupteten.
Roger, der in der Residenz von Botschafter Bryce wohnte, eine fürstliche Behandlung erfuhr und immerfort als Sir Roger angesprochen wurde, ging als Erstes zu einem Barbier, ließ sich Haare und Bart schneiden und eine Maniküre vornehmen. Dann kleidete er sich in den eleganten Herrengeschäften Washingtons neu ein. Ihm wurde dabei neuerlich bewusst, wie widersprüchlich sein Leben war. Vor zwei Wochen noch war er ein armer Teufel in einem armseligen Hotel in Iquitos gewesen, dessen Leben auf dem Spiel stand, jetzt trat er als Repräsentant der britischen Krone auf, der den Präsidenten der Vereinigten Staaten überzeugen sollte, Großbritannien zu unterstützen und eine Verbesserung der Zustände im Amazonasgebietzu erwirken, während er sich im Grunde ganz als Ire fühlte und von der irischen Unabhängigkeit träumte. War das Leben nicht ein absurdes Theaterstück, das von einem Augenblick auf den anderen in eine Farce umschlagen konnte?
Die drei Tage in Washington waren schwindelerregend betriebsam, es gab mehrere Arbeitstreffen mit Beamten des Außenministeriums und eine lange persönliche Unterredung mit dem Außenminister. Am dritten Tag wurde er im Weißen Haus von Präsident Taft in Gegenwart mehrerer Berater und des Außenministers empfangen. Bevor Roger zu seiner Ausführung über Putumayo ansetzte, hatte er eine flüchtige Vision, in der er sich nicht als diplomatischer Vertreter der britischen Krone sah, sondern als Sondergesandten der neu gegründeten Republik Irland, von der Übergangsregierung geschickt, um die Gründe darzulegen, warum eine überwältigende Mehrheit der Iren per Volksabstimmung die Zugehörigkeit zu Großbritannien aufgekündigt und ihre Unabhängigkeit gewählt hätte. Das neue Irland wolle jedoch die freundschaftlichen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten aufrechterhalten, deren demokratische Prinzipien es teile und wo eine große irischstämmige Gemeinschaft lebe.
Roger wurde seiner Aufgabe bestens gerecht. Die
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