Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
Vom Netzwerk:
Tod. Oft habe ich ihm ins Auge gesehen. Auf den Expeditionen durch die von Raubtieren bevölkerte Wildnis des Kongos. Im Amazonasgebiet, auf Flüssen voller Stromschnellen, an deren Ufern einem die Wegelagerer auflauerten. Vor kurzem erst, als ich in Banna Strand bei Tralee das U-Boot verließ, unser Boot kenterte und wir beinahe alle ertranken. Oft habe ich den Tod ganz nah gespürt. Und ich hatte keine Angst. Doch jetzt habe ich Angst.«
    Ihm versagte die Stimme und er schloss die Augen. Seit einigen Tagen hatte er immer wieder diese Anfälle von Panik. Er zitterte am ganzen Leib. Sosehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht beruhigen. Seine Zähne klapperten, und neben der Angst empfand er jetzt noch Scham. Als er aufsah, saß Pater Carey mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen da. Er betete stumm.
    »Es ist schon vorbei«, murmelte Roger benommen. »Bitte verzeihen Sie.«
    »Seien Sie vor mir nicht verlegen. Angst zu haben und zu weinen ist vollkommen menschlich.«
    Roger erlangte seine Fassung zurück. Eine durchdringende Stille herrschte im Pentonville-Gefängnis, als wären die Häftlingeund Wärter der drei riesigen quadratischen Gebäude mit ihren Spitzdächern allesamt eingeschlafen; oder tot.
    »Ich danke Ihnen, dass Sie mir keine Fragen zu den abscheulichen Dingen gestellt haben, die offenbar über mich verbreitet werden, Pater Carey.«
    »Ich habe sie nicht gelesen, Roger. Wenn jemand mit mir darüber sprechen wollte, hieß ich ihn schweigen. Ich weiß nicht und will auch nicht wissen, worum es geht.«
    »Ich weiß es auch nicht«, lächelte Roger. »Hier bekomme ich keine Zeitungen. Ein Assistent meines Anwalts sagte mir, es sei so skandalös, dass es das Gnadengesuch in Gefahr bringe. Anscheinend Perversionen, entsetzliche Schandtaten.«
    Pater Carey hörte ihm ruhig zu. Bei ihrer ersten Unterredung im Pentonville-Gefängnis hatte er Roger erzählt, dass seine Großeltern väterlicherseits untereinander Gälisch gesprochen, jedoch immer ins Englische gewechselt hätten, wenn eines ihrer Kinder in die Nähe kam. Auch dem Geistlichen war es nicht gelungen, Altirisch zu lernen.
    »Ich glaube, es ist fast besser, ich weiß nicht, wessen sie mich beschuldigen. Alice Stopford Green nimmt an, es handelt sich um einen Schachzug der Regierung, um die Öffentlichkeit gegen das Gnadengesuch einzustimmen.«
    »In der Politik ist nichts undenkbar«, sagte der Geistliche. »Die Politik ist nicht unbedingt die lauterste der menschlichen Tätigkeiten.«
    Es klopfte leicht gegen die Tür, dann wurde sie aufgeschoben, und das aufgedunsene Gesicht des Sheriffs blickte herein.
    »Noch fünf Minuten, Pater Carey.«
    »Der Direktor hat mir eine halbe Stunde bewilligt. Hat man Ihnen das nicht gesagt?«
    Der Sheriff machte eine erstaunte Miene.
    »Wenn Sie es sagen«, entschuldigte er sich. »Dann verzeihen Sie die Störung. Sie haben noch zwanzig Minuten.«
    Er verschwand, und die Tür wurde wieder zugezogen.
    »Gibt es Neuigkeiten aus Irland?«, fragte Roger unvermittelt, als würde er lieber das Thema wechseln wollen.
    »Die Erschießungen haben anscheinend ein Ende genommen. Die Bevölkerung, in Irland wie hier in England, hat die Schnellhinrichtungen sehr kritisiert. Jetzt hat die Regierung angekündigt, alle, die im Zuge des Osteraufstands verhaftet worden sind, kämen vor Gericht.«
    Roger blickte aus dem kleinen vergitterten Fenster und dachte, wie widersinnig, das alles doch war: Man hatte ihm den Prozess gemacht und ihn verurteilt, weil er Waffen für den irischen Unabhängigkeitskampf geschmuggelt hatte, wo er doch in Wirklichkeit diese gefährliche, ja absurde Reise von Deutschland bis an die Küste von Tralee angetreten hatte, um den Aufstand zu verhindern, dessen Scheitern für ihn, seit er von den Vorbereitungen dazu erfahren hatte, außer Frage stand. War das die Geschichte? Wie sie in der Schule gelehrt wurde? Wie sie von den Historikern geschrieben wurde? Eine mehr oder weniger idyllische, rationale und schlüssige Konstruktion einer im Grunde willkürlichen, chaotischen Realität aus Zufällen, Fügungen, widersprüchlichen Interessen und Vorhaben, deren Zusammenwirken zu unverhofften Wendungen führte, die beabsichtigten oder tatsächlich gelebten Geschehnisse vorantrieb oder bremste.
    »Möglicherweise gehe ich als einer der Urheber des Osteraufstands in die Geschichte ein«, meinte Roger ironisch lächelnd. »Dabei wissen wir beide, dass ich mein Leben auf der Reise hierher aufs Spiel

Weitere Kostenlose Bücher