Der Traum des Kelten
antwortete aber nicht. In seiner Zelle legte Roger sich auf die Pritsche und nahm die Nachfolge Christi zur Hand. Doch er konnte sich nicht konzentrieren. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, und in seinem Geist flackerte ein Reigen von Bildern auf, darunter ein ums andere Mal Anne Jephsons Gestalt.
Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn seine Mutter nicht so früh gestorben, wenn sie in seinen Jugendjahren, Erwachsenenjahren noch für ihn da gewesen wäre? Womöglich hätte er sich nicht auf das afrikanische Abenteuer eingelassen. Er wäre in Irland oder Liverpool geblieben, hätte eine Laufbahn als Verwaltungsangestellter eingeschlagen und ein bequemes kleines Leben mit Frau und Kindern geführt. Er musste lächeln. Nein, so ein Leben hätte nicht zu ihm gepasst. Dann doch eher eines, wie er es tatsächlich geführt hatte, mit allen Widrigkeiten. Er hatte die Welt gesehen, seinen Horizont ungemein erweitert, er wusste viel über das Leben und das Menschsein, über die Mechanismen des Kolonialismus und die Tragödie, die diese schlimme Verirrung für so viele Völker bedeutete.
Hätte Anne Jephson länger gelebt, hätte er nicht die traurigschöne Geschichte Irlands entdeckt, von der er in der Ballymena High School nie etwas gehört hatte und die den Kindern und Jugendlichen im Norden Antrims immer noch vorenthalten wurde. Nach wie vor lernten sie, Irland sei ein barbarisches Land ohne nennenswerte Vergangenheit gewesen, dem die englische Besatzungsmacht die Zivilisation gebrachthabe. Dass es dabei gleichzeitig seiner Tradition, Sprache und Selbstbestimmung beraubt wurde, hatte er in Afrika erkannt. Wäre seine Mutter noch am Leben gewesen, hätte er womöglich nie solchen Stolz auf sein Heimatland entwickelt und solchen Zorn über das, was Großbritannien aus ihm gemacht hatte.
Waren die Opfer gerechtfertigt, die diese zwanzig afrikanischen Jahre bedeutet hatten, Jahre der Krankheit, Einsamkeit und Enttäuschung, die sieben Jahre in Südamerika, die eineinhalb Jahre in Deutschland? Geld war ihm nie wichtig gewesen, aber war es nicht absurd, dass er, nachdem er sein ganzes Leben hart gearbeitet hatte, nun arm wie eine Kirchenmaus war? Seine letzte Kontoauskunft verzeichnete zehn Pfund. Er war stets unfähig gewesen, zu sparen. Seine Einkünfte hatte er immer für andere aufgewendet – für seine drei Geschwister, für Wohltätigkeitsorganisationen wie die Congo Reform Association und für nationalistische irische Institutionen wie St. Enda’s School und die Gaelic League , denen er eine Zeit lang sein gesamtes Gehalt zukommen ließ. Dafür hatte er selbst äußerst asketisch gelebt, immer wieder in billigen Pensionen gehaust, die unter der Würde seines Ranges waren, wie ihm die Kollegen im Foreign Office zu verstehen gegeben hatten. Niemand würde sich jetzt, nach seiner Niederlage, an diesen Altruismus erinnern. Nur sein Scheitern würde in Erinnerung bleiben.
Doch das war nicht das Schlimmste. Warum konnte er diese verdammten Gedanken nicht verbannen? Wenn es nach der englischen Regierung ginge, würde von ihm lediglich das Bild eines degenerierten, lasterhaften Perversen zurückbleiben. Nicht die Entbehrungen und Krankheiten des rauen Lebens in Afrika. Gelbsucht, Malaria, Arthritis hatten seine Gesundheit zerrüttet. Unwillkürlich musste er an die Hämorrhoiden-Operationen denken, an all die beschämenden Beschwerden, die ihm so zugesetzt hatten, seit er sich im Jahr 1893 zum ersten Mal wegen einer Analfistel hatte operieren lassen müssen. »Sie hätten früher kommen sollen, vor drei oder vier Monatenwäre das ein leichter Eingriff gewesen. Jetzt ist es ernst.« »Ich lebe in Afrika, Doktor, in Boma, der Arzt dort ist ein Gewohnheitstrinker, dem die Hände vom Delirium tremens zittern. Sollte ich mich vielleicht von diesem Doktor Salabert operieren lassen, der weniger von Medizin versteht als ein Wunderheiler der Bakongo?« Beinahe sein ganzes Leben lang hatten ihm diese Dinge zu schaffen gemacht. Erst wenige Monate zuvor hatte er im Gefangenenlager von Limburg eine Blutung erlitten, die von einem rabiaten Militärarzt genäht wurde. Als er sich dazu entschloss, die Aufgabe zu übernehmen, den von den Kautschukbaronen im Amazonasgebiet begangenen Grausamkeiten nachzugehen, war er bereits ein kranker Mann. Obwohl er wusste, dass diese Unternehmung ihn mehrere Monate in Anspruch nehmen und ihm nur Probleme bringen würde, hatte er sich darauf eingelassen, weil er einen Beitrag für mehr Gerechtigkeit
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