Der Traum des Kelten
Gerechtigkeit zu sein. Es erschienen Interviews mit ihm, man bat ihn, auf öffentlichen Veranstaltungen und in privaten Clubs zu reden, er konnte sich vor Einladungen aus liberalen und antikolonialistischen Zirkeln kaum retten, in Artikeln und Zeitungsnotizen wurden sein Berichtund sein Engagement immer wieder in den höchsten Tönen gelobt. Die Kongo-Kampagne hatte neuen Auftrieb. Presse, Kirchen, die fortschrittlichsten Kreise der englischen Gesellschaft waren entsetzt über die Enthüllungen und forderten, Großbritannien müsse seine Verbündeten dazu bringen, die Konzession des Kongos an den belgischen König rückgängig zu machen.
Von diesem plötzlichen Ruhm etwas überfordert – die Leute erkannten ihn im Theater, in Restaurants, drückten ihm auf der Straße ihre Sympathie aus –, machte Roger sich nach Irland auf. Er verbrachte einige Tage in Dublin, reiste dann bald nach Ulster weiter, in den Norden von Antrim, Schauplatz seiner Kindheit und Jugend. Der Familiensitz Magherintemple House befand sich inzwischen in Besitz seines Onkels und Namensvetters Roger, des Sohnes seines 1902 verstorbenen Großonkels John. Seine Großtante Charlotte lebte noch. Sie und die anderen Cousins, Cousinen, Neffen und Nichten empfingen ihn mit herzlicher Zuneigung. Doch er spürte, dass sich zwischen ihm und seiner unbeirrbar englandtreuen Familie väterlicherseits eine unsichtbare Kluft aufgetan hatte. Das allerdings schmälerte nicht seine Ergriffenheit beim Anblick des großen steinernen Herrenhauses Magherintemple und der Landschaft ringsum, der Wind und Salpeter widerstehenden, zuweilen von Efeu beinahe erstickten Maulbeerfeigen, der Pappeln, Eichen und Pfirsichbäume auf den Schafweiden, und des Meers in der Ferne, der Insel Rathlin und der kleinen Stadt Ballycastle mit ihren weißen Häuschen. Wenn er durch die mit Hirschgeweihen behängten großen Räume des Hauses ging oder durch die Stallungen und den Obstgarten dahinter, durch die alten Dörfer von Cushendun und Cushendall, wo mehrere Generationen seiner Vorfahren begraben lagen, stiegen wehmütige Kindheitserinnerungen in ihm auf. Die neuen Ideen und Gefühle, die sein Land nunmehr in ihm wachrief, machten diesen mehrmonatigen Aufenthalt unterdessen zu einem großen Abenteuer. Ein – im Unterschied zu seiner Reise an den Oberlauf des Kongos – schönes, anregendes Abenteuer,in dessen Verlauf ihm war, als würde er in eine neue Haut schlüpfen.
Er hatte einen Stapel Bücher mitgenommen, von Alice empfohlene Grammatiken und Essays, und verbrachte viele Stunden mit der Lektüre irischer Geschichten und Legenden. Er versuchte, Gälisch zu lernen, zunächst auf eigene Faust, dann, als er merkte, dass ihm das nicht leicht gelingen würde, mit Hilfe eines Lehrers, der ihn zweimal wöchentlich unterrichtete.
Doch vor allem schloss er neue Bekanntschaften mit Menschen aus der Grafschaft Antrim, aus Ulster stammende Protestanten, die trotzdem keine Unionisten waren. Sie wollten das Wesen des ursprünglichen Irlands erhalten, kämpften gegen den wachsenden englischen Einfluss im Land, setzten sich für die Pflege des Altirischen, der traditionellen Lieder und Bräuche ein, wehrten sich gegen die Rekrutierung von Iren für die britische Armee und träumten von einem autonomen, ruralen Irland, frei von Industrialisierung und der Gängelung durch das Empire. Roger trat der Gaelic League bei, einer Vereinigung zur Verbreitung der irischen Sprache und Kultur. Ihr Motto lautete »Sinn Féin« (»Wir allein«). In der Gründungsrede 1893 in Dublin hatte der erste Präsident Douglas Hyde die Anwesenden daran erinnert, dass bis dato insgesamt nur sechs Bücher auf Gälisch veröffentlicht worden seien. Roger freundete sich mit Hydes Nachfolger an, Eoin MacNeill, Dozent für alte und mittelalterliche Geschichte Irlands am University College. Er besuchte Vorlesungen und Vorträge, nahm an Liederabenden und Demonstrationen teil und an Denkmalsetzungen für irische Nationalhelden, die von der Sinn Féin veranstaltet wurden. Und er begann selbst, politische Artikel zur Verteidigung der irischen Kultur zu schreiben, unter dem Pseudonym Shan van Vocht, »Die arme Alte«, das aus einer irischen Ballade stammte, die er gern vor sich hin summte. Zugleich verbrachte er viel Zeit mit einer Gruppe von Damen, unter ihnen die Schlossherrin von Galgorm, Rose Maud Young, die mit Ada MacNeill und MargaretDobbs durch die Dörfer zog, um alte Geschichten zu sammeln. Mit ihnen hörte er auf einem
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