Der Traum des Kelten
Volksfest einmal einen der Seanchai genannten fahrenden Geschichtenerzähler, wobei er kaum ein Wort verstand.
Bei einem abendlichen Gespräch in Magherintemple House sagte Roger einmal, ganz außer sich, zu seinem Onkel Roger: »Als Ire, der ich bin, hasse ich das Empire.«
Am nächsten Tag erhielt er einen Brief vom Grafen von Argyll, der ihm mitteilte, die Regierung seiner Majestät habe beschlossen, ihn für seine im Kongo geleisteten Dienste mit dem Orden des Companion of Saint Michael and Saint George auszuzeichnen. Roger blieb der Zeremonie mit der Entschuldigung fern, eine Knieverletzung mache es ihm unmöglich, dem König die gebotene Reverenz zu erweisen.
VII
»Sie hassen mich, das ist offensichtlich«, sagte Roger. Der Sheriff nickte langsam und zog eine Grimasse, die sein aufgedunsenes Gesicht vollends entstellte.
»Da irren Sie sich«, brummte er. »Ich hasse sie nicht. Ich verachte Sie. Das ist alles, was Verräter verdienen.«
Sie gingen durch den verrußten Backsteinkorridor des Gefängnisses zum Besucherraum, wo der katholische Kaplan Pater Carey ihn erwartete. Durch die vergitterten Fenster machte Roger dunkle Wolkenfetzen aus. Ob es draußen regnete, auf die Caledonian Road und den Roman Way, über den etliche Jahrhunderte zuvor die ersten römischen Legionäre durch die von Bären bevölkerten Wälder marschiert waren?
Er stellte sich die Marktstände im benachbarten Islington Park im Regen vor. Ein Anflug von Neid überkam ihn, als er an die Menschen dachte, die da unter ihren Schirmen Dinge kaufen und verkaufen konnten.
»Sie hatten doch alles«, murrte der Sheriff hinter ihm. »Diplomatische Posten. Auszeichnungen. Der König hat Sie geadelt. Und Sie haben sich an die Deutschen verkauft. Das nenne ich schäbig. Und undankbar.«
Er machte eine Pause, und Roger hörte so etwas wie einen Seufzer.
»Wenn ich an meinen armen Jungen denke, der im Schützengraben gefallen ist, sage ich mir, dass Sie einer seiner Mörder sind, Mr. Casement.«
»Es tut mir sehr leid, dass Sie Ihren Sohn verloren haben«, entgegnete Roger, ohne sich umzudrehen. »Und ich weiß, dass Sie mir das nicht glauben werden, aber ich habe bislang noch niemanden getötet.«
»Und Sie werden auch keine Zeit mehr dafür haben«, beschied der Sheriff. »Gott sei Dank.«
Sie waren an der Tür des Besucherraums angelangt. Der Sheriff blieb bei dem schichthabenden Wärter draußen. Die Besuche des Kaplans waren die einzigen, bei denen weder der Sheriff noch ein anderer Wärter mit im Raum waren. Roger trat ein. Er freute sich, die schmale Gestalt des Geistlichen zu sehen. Pater Carey begrüßte ihn mit einem festen Händedruck.
»Ich habe Nachforschungen angestellt und die Antwort gefunden«, verkündete er ihm lächelnd. »Ihr Gedächtnis hat Sie nicht betrogen. Sie wurden als Kind tatsächlich in Wales, in der Pfarrei von Rhyl, getauft. Im Registerbuch ist es so verzeichnet. Anwesend waren Ihre Mutter und zwei ihrer Schwestern. Sie müssen nicht erst in die katholische Kirche eintreten. Sie gehörten ihr schon immer an.«
Roger nickte. Die vage Erinnerung, die ihn sein Leben lang begleitet hatte, hatte ihn also nicht getäuscht. Seine Mutter hatte ihn auf einer ihrer Reisen nach Wales heimlich getauft, ohne seinem Vater etwas zu sagen. Die Komplizenschaft, die dieses Geheimnis zwischen ihm und Anne Jephson herstellte, beglückte ihn jetzt. Und auch der Umstand, dass er auf diese Weise mehr im Einklang mit sich selbst, mit seiner Mutter, mit Irland zu sein schien. Als wäre seine Annäherung an den Katholizismus eine natürliche Folge dessen, was er in den letzten Jahren getan und versucht hatte, alle Irrtümer und Niederlagen eingeschlossen.
»Ich habe Thomas von Kempen gelesen, Pater Carey«, sagte er. »Zunächst konnte ich mich kaum auf die Lektüre konzentrieren. Aber in den letzten Tagen ist es mir gelungen, jeweils mehrere Stunden. Nachfolge Christi ist ein wunderbares Buch.«
»Im Seminar haben wir auch viel Thomas von Kempen gelesen«, anwortete der Geistliche. »Vor allem Nachfolge Christi .«
»Eine große Ruhe überkommt mich, wenn ich mich auf diesen Text einlasse«, sagte Roger. »Als würde ich aus dieserWelt in eine andere, sorglose entschweben, in eine rein spirituelle Wirklichkeit. Pater Crotty tat gut daran, als er mir in Deutschland dieses Buch ans Herz legte. Doch er hätte sich bestimmt nicht vorgestellt, unter welchen Umständen ich seinen verehrten Thomas von Kempen lesen würde.«
Vor kurzem
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