Der Traum des Kelten
Konsulposten in Santos, Brasilien, an. Roger musste wohl oder übel annehmen, denn das proirische Mäzenatentum hatte seinen kleinen finanziellen Grundstock aufgezehrt und er hatte sich verschuldet.
Vielleicht lag es auch an seinem fehlenden Enthusiasmus, dass er die vier Jahre in Brasilien, von 1906 bis 1910, als eine schlechte Zeit erlebte. Es fiel ihm schwer, sich in dem riesigen Land einzugewöhnen, trotz der Naturschönheiten undder Freundschaften, die er in Santos, Pará und Rio de Janeiro schloss. Am meisten deprimierte ihn, dass er, anders als im Kongo, nie das Gefühl hatte, etwas Wichtiges zu bewirken. Seine Hauptaufgabe in Santos bestand darin, in Schwierigkeit geratene britische Seeleute aus dem Gefängnis freizukaufen und sie nach England zurückzuschicken. In Pará hörte er zum ersten Mal von den entsetzlichen Zuständen in den Kautschukgebieten. Doch der Minister ordnete ihm an, sich ganz auf die Kontrolle der Hafen- und Handelsaktivitäten zu konzentrieren. Er registrierte die ankommenden und abfahrenden Schiffe und unterstützte die Engländer, die etwas kaufen oder verkaufen wollten, bei der Abwicklung der Formalitäten. Besonders unwohl fühlte er sich in Rio de Janeiro. Das Klima verschlimmerte seine Beschwerden und verursachte ihm zudem noch Allergien, die ihm den Schlaf raubten. Er sah sich schließlich dazu gezwungen, in dem achtzig Kilometer von der Hauptstadt entfernten Petropolis Quartier zu beziehen, das in den Bergen lag, wo Hitze und Luftfeuchtigkeit erträglicher und die Nächte kühl waren. Die tägliche Zugfahrt in die Stadt war dafür mehr als beschwerlich.
Eines Nachts, im Traum, erinnerte er sich daran, wie er im September 1906, vor seiner Abreise nach Santos, das lange Versepos »Der Traum des Kelten« über die mythische Vergangenheit Irlands verfasst hatte und dazu, gemeinsam mit Alice Stopford Green und Bulmer Hobson, ein politisches Pamphlet mit dem Titel »Die Iren und die englische Armee«, das sich gegen die Rekrutierung der Iren durch das britische Militär aussprach.
Bei Einbruch der Dämmerung weckten ihn die Moskitos aus seiner wohltuenden Siesta. Der Himmel hatte sich in einen Regenbogen verwandelt. Er fühlte sich besser. Sein Auge brannte nicht mehr so stark, und die arthritischen Schmerzen hatten nachgelassen. Sich im Haus von Mr. Stirs zu duschen erwies sich als komplizierte Unternehmung: Das Duschrohr kam aus einem Behälter, in das ein Bediensteter Wasser aus Eimern schüttete, während Roger sich einseifte und wusch.Das Wasser war lauwarm wie im Kongo. Als er die Treppe herabstieg, erwartete der Konsul ihn bereits an der Tür, um ihn zum Präfekten Rey Lama zu begleiten.
Sie mussten mehrere Häuserblocks weit gegen einen starken Wind angehen, in dem man kaum die Augen offen halten konnte. Es war jetzt beinahe dunkel, und sie stolperten über Straßenlöcher, Steine und Unrat. Der Krach war noch lauter geworden. Aus den Kneipen schallte Musik, man hörte Trinksprüche, Streitereien und Gegröle. Mr. Stirs, ein in die Jahre gekommener, kinderloser Witwer, war seit sechs Jahren in Iquitos und machte einen müden, resignierten Eindruck.
»Wie ist die allgemeine Einstellung zu dieser Kommission?«, fragte ihn Roger.
»Offen feindselig«, entgegnete der Konsul, ohne zu zögern. »Halb Iquitos lebt von Julio C. Arana, ich nehme an, das wissen Sie. Oder besser gesagt von den Gesellschaften Julio C. Aranas. Die Leute haben die Kommission in Verdacht, ihrem Arbeitgeber und Versorger an den Kragen zu wollen.«
»Können wir irgendeine Hilfe von Seiten der Obrigkeit erwarten?«
»Vielmehr alle Hindernisse der Welt, Mr. Casement. Auch die Obrigkeit von Iquitos hängt von Arana ab. Präfekt, Richter und Militärs bekommen seit Monaten keinen Lohn von der Regierung ausbezahlt. Ohne Arana würden sie verhungern. Führen Sie sich vor Augen, dass Lima durch die schlechte Transportverbindung weiter weg von Iquitos ist als New York oder London. Zwei Monate ist man unterwegs, wenn man gut durchkommt.«
»Das wird schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte«, sagte Roger.
»Sie und die anderen Herren der Kommission müssen sehr vorsichtig sein«, fügte der Konsul etwas zögerlicher und mit gesenkter Stimme hinzu. »Nicht hier in Iquitos. Aber in Putumayo. Dort draußen kann Ihnen alles Mögliche zustoßen. Es ist eine barbarische Welt, ohne Ordnung und Gesetz. Ungefähr so wie im Kongo, stelle ich mir vor.«
Die Präfektur von Iquitos lag an der Plaza de Armas, einem
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