Der Traum des Kelten
Jacke und Schuhe auszuziehen, legte er sich hin. Ein Gefühl des Friedens überkam ihn, wie er es während der wochenlangen Reise nicht gekannt hatte. Er schlief sofort ein.
Und er träumte nicht von den vier Jahren als Konsul in Brasilien – in Santos, Pará und Rio de Janeiro –, die er gerade hinter sich hatte, sondern von den anderthalb Jahren, die er 1904 und 1905 in Irland verbracht hatte. Das war nach den turbulenten, aberwitzig hektischen Monaten gewesen, in denen die britische Regierung die Veröffentlichung seines Kongo-Berichts vorbereitete, der aus ihm gleichermaßen einen Helden wie einen Geächteten machen sollte, von der liberalen Presse und den Menschenrechtsorganisationen gelobt, von den Schreiberlingen im Dienste von Leopold II. geschmäht. Umsich der Öffentlichkeit zu entziehen, reiste Roger, während sich das Foreign Office über seine neue Bestimmung beriet – »der meistgehasste Mann des belgischen Königreichs« konnte auf keinen Fall zurück in den Kongo –, nach Irland, auf der Suche nach einem Ort, wo ihn niemand kannte. Er blieb nicht ganz unerkannt, aber er entkam der zudringlichen Neugierde, die ihm in London ein Privatleben unmöglich machte. In diesen Monaten entdeckte er sein Land neu, tauchte ganz in ein Irland ein, das er bis dahin nur aus Gesprächen, Erzählungen und Büchern kannte. »Lieber Roger, du bist ein richtiger irischer Patriot geworden«, scherzte seine Cousine Gee in einem Brief. »Ich hole Versäumtes nach«, antwortete er.
Er hatte in jenen Monaten immer wieder lange Wanderungen durch Donegal und Galway unternommen und sich mit der Geografie seines besetzten Heimatlandes vertraut gemacht, hatte wie ein Liebender die einsame Landschaft betrachtet, die schroffe Küste, hatte mit den fatalistischen, wortkargen Fischern und Bauern gesprochen. Er hatte viele Iren »von der anderen Seite« kennengelernt, Katholiken und auch Protestanten, die sich wie Douglas Hyde, der Gründer der National Literary Society , für eine Wiederbelebung der irischen Kultur einsetzten, den Ortschaften die ursprünglichen Namen wiedergeben und die alten irischen Lieder, Tänze, die traditionellen Spinn- und Webtechniken rehabilitieren wollten. Als ihn seine Ernennung zum Konsul von Lissabon erreichte, zögerte er seine Abreise unter dem Vorwand gesundheitlicher Probleme hinaus, um am ersten Feis nan Gleann , dem »Festival der Glens« in Antrim teilnehmen zu können, das beinahe dreitausend Besucher zählte. Auf diesem Festival stiegen Roger mehrmals die Tränen in die Augen, während er den fröhlichen, mehrstimmig gespielten Melodien der Dudelsackbläser oder den Geschichtenerzählern zuhörte – ohne sie zu verstehen –, die auf Gälisch Romanzen und Legenden vortrugen. Sogar eine Partie des jahrhundertealten Sports Hurling wurde veranstaltet. Roger lernte pronationalistische Politiker und Schriftsteller wie Horace Plunkett,Bulmer Hobson, Stephen Gwynn kennen und begegnete auch einigen Freundinnen, die sich, wie Alice Stopford Green, dem Erhalt der irischen Kultur verschrieben hatten: Ada MacNeill, Margaret Dobbs, Alice Milligan, Agnes O’Farrelly und Rose Maud Young.
Fortan ließ er einen Teil seiner Ersparnisse und Einkünfte den gälischen Gruppierungen und Schulen der Brüder Pearse zukommen, die auch jene Zeitschriften herausgaben, für die er unter Pseudonym selbst Artikel schrieb. Als Arthur Griffith 1904 Sinn Féin gründete, nahm Roger Kontakt mit ihm auf, bot seine Mitarbeit an und abonnierte alle Veröffentlichungen der Vereinigung. Arthur Griffith vertrat die gleichen Ideen wie Bulmer Hobson, mit dem Roger sich inzwischen angefreundet hatte: Man musste parallel zu den kolonialen Institutionen eine irische Infrastruktur aus Schulen, Banken und Unternehmen schaffen, die nach und nach das von England aufgezwungene Gemeinwesen ersetzen sollten. Damit würden die Iren mit der Zeit ein Bewusstsein für die Notwendigkeit entwickeln, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Man müsste britische Produkte boykottieren, Steuerzahlungen verweigern, englische Sportarten wie Cricket und Fußball durch traditionelle irische ersetzen, die eigene Literatur fördern. So würde sich Irland auf friedlichem Weg von dem kolonialen Joch befreien.
Roger las nicht nur viel über irische Geschichte, er versuchte sich mit einer Lehrerin auch wieder am Gälischen, kam jedoch nur langsam voran. 1906 bot ihm der neu ernannte Außenminister, Sir Edward Grey von der Liberal Party, den
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