Der Traum des Kelten
die allein die Nennung des Namens provozierte, hatte ihn bereits vermuten lassen, dass sein Verschwinden endgültig war.
»Haben Sie ihn gekannt?«
Auf die runde Glatze des Konsuls waren schimmernde Tröpfchen getreten. Langsam tastete er sich mit seinem Stock über den morastigen Grund, als fürchtete er, auf eine Schlange oder eine Ratte zu treten.
»Wir haben uns zwei- oder dreimal unterhalten«, sagte Stirs. »Er war klein, leicht krumm. Ein Mestize, Cholo oder Cholito heißen die hier. Cholos sind zumeist leise und formbedacht. Davon bei Saldaña Roca keine Spur. Er war barsch, sehr selbstsicher. Und er hatte diesen starren Blick, den man bei Gläubigen und Fanatikern findet und der mich, offen gestanden, immer etwas nervös macht. So etwas ist mir fremd. Ich hege keine große Bewunderung für Märtyrer, Mr. Casement.Auch nicht für Helden. Diese Leute, die sich im Namen der Wahrheit oder Gerechtigkeit selbst verbrennen, richten oft größeren Schaden an, als sie Gutes tun.«
Roger sagte nichts. Er versuchte, sich diesen kleinen, ungestalten Menschen vorzustellen, dessen Gemüt und Willenskraft ihn an Edmund D. Morel erinnerten. Ein Märtyrer und ein Held, ja. Er malte sich aus, wie er eigenhändig die Druckerschwärze auf den Druckplatten für seine Zeitungen La Felpa und La Sanción verteilte. Wahrscheinlich stellte er sie auf einer kleinen manuellen Presse her, die er zu Hause in einer Ecke stehen hatte. Und dieses bescheidene Heim fungierte vermutlich gleichzeitig auch als Redaktion und Geschäftsstelle.
»Ich hoffe, Sie nehmen mir nicht übel, was ich gesagt habe«, entschuldigte sich der Konsul und klang plötzlich reumütig. »Natürlich war es sehr mutig von Saldaña Roca, diese Anschuldigungen zu veröffentlichen. Es ist ziemlich verwegen, wenn nicht selbstmörderisch, das Haus Arana wegen seiner gnadenlosen Methoden in den Kautschukfabriken von Putumayo anzuklagen. Und er war nicht naiv, er wusste sehr wohl, was passieren würde.«
»Was passierte denn?«
»Was zu erwarten war«, sagte Stirs ungerührt. »Man hat seine Druckerei in der Calle Morona niedergebrannt, die verkokelten Überreste stehen noch. Außerdem haben sie sein Haus in der Calle Prospero unter Beschuss genommen. Auch die Einschusslöcher kann man noch sehen. Er musste seinen Sohn von der Schule nehmen, weil seine Klassenkameraden ihm das Leben zur Hölle machten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seine Familie an einen geheimen Ort zu bringen, ihr Leben war in Gefahr. Er musste die Zeitungen einstellen, weil das Anzeigengeschäft zusammenbrach und keine Druckerei in Iquitos sie noch drucken wollte. Zweimal wurde er auf der Straße angeschossen, zur Warnung. Eine Kugel traf ihn in die Wade, seitdem hinkte er. Zuletzt habe ich ihn im Februar 1909 an der Uferpromenade gesehen. Zu mehreren haben sie ihnzum Fluss geschleppt. Sein Gesicht war von den Schlägen blau angeschwollen. Sie haben ihn auf ein Schiff gebracht, das nach Yurimaguas fahren sollte. Danach hat man nie wieder etwas von ihm gehört. Vielleicht gelang es ihm wirklich, nach Lima zu fliehen. Hoffentlich. Vielleicht haben sie ihn aber auch mit gefesselten Händen und Füßen und mit blutenden Wunden in den Fluss den Piranhas zum Fraß vorgeworfen. Wenn dem so war, dürften seine Knochen, das Einzige, was diese Bestien übrig lassen, längst im Atlantik angekommen sein. Aber vermutlich schockiert Sie so etwas nicht sehr. Im Kongo haben Sie bestimmt ähnliche oder schlimmere Geschichten gehört.«
Sie hatten das Haus des Konsuls erreicht. Er zündete die Lampe im Vestibül an und bot Roger ein Glas Portwein an. Sie setzten sich auf die Terrasse und rauchten. Der Mond war hinter Wolken verschwunden, man sah noch vereinzelte Sterne. Der Krawall der Straßen klang gedämpft herüber, die Insekten sirrten, das Flusswasser schwappte ans Ufer.
»Und was hat dem armen Saldaña Roca sein Mut nun genutzt?«, fragte der Konsul achselzuckend. »Gar nichts. Er hat seine Familie ins Unglück gestürzt und ist womöglich selbst ums Leben gekommen. Und wir hier sind um die beiden Zeitungen gekommen, deren Klatschgeschichten vergnüglich zu lesen waren.«
»Ich glaube nicht, dass sein Opfer vergebens war«, wandte Roger behutsam ein. »Ohne Saldaña Roca wären wir nicht hier. Außer natürlich, Sie denken, dass unser Kommen auch vergebens sein wird.«
»Das möge Gott verhindern!«, rief der Konsul. »Sie haben recht. Der Skandal in den Vereinigten Staaten, in Europa. Ja, das
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