Der Traum des Kelten
sich einnahmen. Eivind war groß und athletisch, hatte stahlblaue Augen, einen katzenhaften Gang und ein ebenso engelhaftes wie durchtriebenes Lächeln. Er war völlig abgebrannt, was er Roger demonstrierte, indem er mit einer komischen Grimasse seine leeren Hosentaschen umstülpte. Roger lud ihn zu einem Bier und einer Mahlzeit ein. Der junge Mann erzählte ihm, er sei vierundzwanzig Jahre alt und mit zwölf Jahren von zu Hause weggelaufen. Als blinder Passagier sei er von Norwegen bis nach Glasgow gekommen, und seitdem habe er als Heizer auf skandinavischen und englischen Schiffen alle Weltmeere befahren. Jetzt sei er in New York gestrandet und schlage sich so durch.
Und Roger hatte das alles für bare Münze genommen! Röchelnd krümmte er sich auf seiner schmalen Pritsche in einem erneuten Magenkrampf. Er kämpfte gegen die Tränen an. Manchmal nahmen Selbstmitleid und Beschämung so überhand, dass seine Augen feucht wurden, was ihn gleichzeitig deprimierte und abstieß. Er war nie sentimental gewesen, hattenie seine Gefühle gezeigt, jeglichen inneren Aufruhr stets hinter einer Maske vollkommener Gelassenheit zu verbergen gewusst. Doch etwas in ihm hatte sich seit jenem letzten Oktobertag 1914 verändert, an dem er in Begleitung von Eivind Adler Christensen in Berlin eingetroffen war. Lag es vielleicht auch daran, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits krank, abgekämpft und nervlich angegriffen war? Vor allem während der letzten Monate in Deutschland, als er trotz Monteiths Bemühungen, ihn mit seinem Elan anzustecken, erkannte, dass sein Projekt einer Irischen Brigade gescheitert war, und sich gleichzeitig bewusst wurde, dass die deutsche Regierung ihm misstraute – ihn vielleicht ihrerseits für einen britischen Spion hielt –, und zudem feststellen musste, dass sein Protest gegen das mutmaßliche Komplott zu seiner Ermordung, seitens des britischen Konsuls in Norwegen, nicht das internationale Echo fand, mit dem er gerechnet hatte. Und dann erfuhr er zu guter Letzt noch, dass seine Gefährten von der Irish Revolutionary Brotherhood und den Volunteers ihm ihre Pläne für den Osteraufstand bis zum letzten Augenblick verheimlicht hatten. (»Sie mussten strengste Sicherheitsmaßnahmen treffen«, versuchte ihn Robert Monteith zu beschwichtigen.) Zudem untersagten sie ihm, sich ihnen anzuschließen, beharrten darauf, er müsse in Deutschland bleiben. (»Wegen Ihrer Gesundheit«, entschuldigte Monteith sie.) Nein, nicht wegen seiner Gesundheit. Auch sie misstrauten ihm, weil sie wussten, dass er gegen bewaffnete Aktionen war, sofern sie nicht mit einem deutschen Angriff zusammenfielen. Monteith und er hatten das deutsche U-Boot gegen den Befehl der irischen Nationalisten bestiegen.
Doch sein allergrößter Irrtum war es gewesen, blind und naiv dem teuflischen Eivind vertraut zu haben. Der Norweger hatte ihn nach Philadelphia begleitet, wo sie Joseph McGarrity besucht hatten. Dort hatte Roger am 2. August der Parade der über tausend Irish Volunteers beigewohnt, vor denen er unter donnerndem Applaus gesprochen hatte, und in New York einer von John Quinn organisierten Versammlung, beider Roger vor Mitgliedern der irisch-katholischen Vereinigung Ancient Order of Hibernians eine Ansprache hielt.
Vom ersten Moment an hatte er den Argwohn gespürt, den Christensen unter den irischen Nationalisten der Vereinigten Staaten hervorrief. Doch Roger versicherte ihnen so entschieden, Christensen sei absolut loyal und vertrauenswürdig, dass die Anführer des Clan na Gael die Anwesenheit des Norwegers bei allen öffentlichen Auftritten Rogers – jedoch nicht bei ihren politischen Versammlungen – akzeptierten. Und sie waren einverstanden, dass Roger ihn als Adjutanten mit nach Berlin nahm.
Und nicht einmal die sonderbare Episode in Christiania hatte Rogers Verdacht geweckt! Sie waren unterwegs nach Deutschland gerade in der norwegischen Hauptstadt angekommen, als Eivind, wie er später erzählte, bei einem kleinen Spaziergang von Unbekannten angesprochen, entführt und in das britische Konsulat am Drammensveien gebracht worden sei. Dort sei er vom Konsul selbst, Mr. Mansfeldt de Cardonnel Findlay, befragt worden. Dieser habe ihm eine beträchtliche Geldsumme angeboten, wenn er die Identität seines Begleiters und den Grund seines Aufenthaltes in Norwegen preisgäbe. Eivind schwor Roger, er habe nichts verraten und man habe ihn freigelassen, nachdem er dem Konsul versprochen habe, herauszufinden, was man über diesen Herrn
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