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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Scharfsinn nichts verlorenhat. Reiner Obskurantismus, ein Akt des Glaubens.« Er sagte das mit der spöttischen Ironie, die seine Gesprächspartner stets verunsicherte, weil sie ahnten, dass sich hinter der jovialen Art des Dramatikers ein vernichtender Kritiker verbarg. »Akt des Glaubens« bedeutete aus dem Munde dieses ungläubigen Skeptikers so viel wie Aberglaube, Augenwischerei oder noch Schlimmeres. Dennoch war Shaw, der an nichts glaubte und gegen alles polterte, ein großer Schriftsteller, dem die irische Literatur mehr Ansehen zu verdanken hatte als jedem anderen Künstler seiner Generation. Aber wie konnte man ein großes Werk schaffen, ohne ein Patriot zu sein, ohne diese tiefe Blutsverwandtschaft mit dem Land seiner Vorfahren zu spüren, ohne Liebe und Stolz für die Tradition zu empfinden, in der man stand? Deshalb zog Roger unter den Großen Irlands insgeheim Yeats vor. Yeats war sehr wohl ein Patriot, er hatte sich für seine Dichtung und sein Theater von den alten irischen und keltischen Legenden inspirieren lassen, sie neu bearbeitet und damit gezeigt, dass sie lebendig waren und die zeitgenössische Literatur bereichern konnten. Doch sogleich bereute Roger diese Gedanken. Wie konnte er gegenüber George Bernard Shaw nur so undankbar sein. Kaum ein anderer war so offen und beherzt für ihn eingetreten wie der Dramatiker. Er hatte Rogers Anwalt, Serjeant A.M. Sullivan, zu einer Verteidigungsstrategie geraten, der dieser geldgierige Taugenichts unglücklicherweise nicht gefolgt war. Nach dem Urteil hatte Shaw Artikel geschrieben und Manifeste unterzeichnet, die eine Aussetzung der Todesstrafe forderten. Man musste nicht Patriot und Nationalist sein, um großherzig und mutig zu handeln.
    Die kurze Erinnerung an Serjeant A. M. Sullivan und die vier finsteren Tage des Prozesses wegen Hochverrats in Old Bailey Ende Juni 1916 war niederschmetternd. Es hatte sich als äußerst schwierig erwiesen, einen plädierenden Anwalt zu finden, der ihn vor dem Zentralen Strafgerichtshof vertreten würde. Alle Anwälte, die sein Rechtsanwalt Gavan Duffy, seine Familie und seine Freunde in Dublin und London kontaktierten,weigerten sich unter verschiedenen Vorwänden. Niemand wollte in Kriegszeiten einen Landesverräter verteidigen. Schließlich willigte der irische Serjeant A. M. Sullivan ein, der nie zuvor vor einem Londoner Gericht plädiert hatte. Er verlangte dafür eine beträchtliche Summe, die Rogers Schwester Nina und Alice Stopford Green mit Hilfe von Spenden aufbrachten. Entgegen Rogers Wunsch, der offen als Rebell und Kämpfer für die Unabhängigkeit auftreten und den Prozess als ein Forum nutzen wollte, um Irlands Recht auf Selbstverwaltung zu proklamieren, setzte Sullivan auf eine rein formaljuristische Verteidigung, die keinen Bezug auf politische Umstände nahm und auf dem Argument gründete, dass das Gesetz Edwards III., nach dem Roger gerichtet wurde, nur auf dem Gebiet der Krone galt. Die fraglichen Handlungen habe der Angeklagte aber in Deutschland begangen, weshalb Casement nicht als Verräter des Empire betrachtet werden könne. Roger hatte nie daran geglaubt, dass diese Strategie Erfolg haben könnte. Noch dazu war Sullivans Plädoyer ein jämmerliches Schauspiel. Kaum hatte er angesetzt, begann er plötzlich heftig zu gestikulieren und sich zu krümmen, bis er leichenblass ausrief: »Euer Gnaden, ich kann nicht mehr!« und mitten im Gerichtssaal bewusstlos zusammenbrach. Einer seiner Assistenten musste das Plädoyer zu Ende bringen. Wenigstens konnte Roger in seiner Schlussrede seine eigene Verteidigung übernehmen, sich zu einem stolzen Rebellen erklären, den Osteraufstand verteidigen und Unabhängigkeit für sein Vaterland fordern. Er war mit seiner Rede zufrieden und sagte sich, dass sie ihn vor den künftigen Generationen rechtfertigen würde.
    Wie spät war es wohl? Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, nicht die Uhrzeit zu wissen. Die Mauern des Pentonville-Gefängnisses waren so dick, dass von draußen kein Laut hereindrang, weder menschliche Stimmen noch Kirchenglocken noch sonstiger Straßenlärm. Und den Tumult des Marktes von Islington, hörte er den wirklich oder bildete er sich das nur ein? Er wusste es nicht. Eine sonderbareGrabesstille umgab ihn, in der die Zeit, das Leben angehalten schienen. Die einzigen Geräusche, die er hörte, stammten aus dem Inneren des Gefängnisses: gedämpfte Schritte auf dem angrenzenden Korridor, Metalltüren, die sich öffneten und schlossen,

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