Der Traum des Kelten
Flussufer zu gebären, war von einem Jaguar zerfetzt worden. Ein Trupp Jäger hatte sich unter Leitung des Vorstehers auf die Suche nach dem Jaguar begeben, doch bei Einbruch der Nacht kehrten sie unverrichteter Dinge zurück. Der Vorsteher hieß Andrés O’Donell, er war ein gutaussehender junger Mann, der angab, sein Vater sei Ire. Auf Rogers Fragen hin konnte er allerdings nur so dürftige Auskunft über seine irischen Vorfahren geben, dass vermutlich bereits sein Großvater, vielleicht sogar sein Urgroßvater, der erste O’Donnell gewesen war, der sich in Peru niedergelassen hatte. Roger fand es bedauerlich, dass ausgerechnet ein Nachfahre von Iren einervon Aranas Statthaltern in Putumayo war, obwohl er den Zeugenaussagen nach lange nicht so blutrünstig zu sein schien wie die anderen Vorsteher. Offenbar hatte er Eingeborene ausgepeitscht und ihnen ihre Frauen und Töchter weggenommen, um sie seinem persönlichen Harem einzuverleiben – er lebte mit sieben Frauen zusammen, die eine ganze Reihe Kinder von ihm hatten –, aber den Berichten nach hatte er weder jemanden getötet noch töten lassen. Der Fußblock stand jedoch weithin sichtbar da, und alle Jungs und Barbadier trugen Peitschen um die Hüfte, manche verwendeten sie als Gürtel. Und etliche Indios hatten Narben auf Rücken, Beinen und Hinterteilen.
Obwohl seine offizielle Mission nur die Befragung britischer Staatsbürger, also der Barbadier vorsah, die für Aranas Gesellschaft arbeiteten, hatte Roger seit Occidente damit begonnen, auch mit Verständigen zu reden. In Entre Ríos verfuhr die gesamte Kommission so. Während ihres mehrtägigen Aufenthaltes sagten nicht nur die drei unter Andrés O’Donnell als Aufseher arbeitenden Barbadier aus, sondern auch der Chef der Verständigen und einige seiner Jungs.
Die Befragungen verliefen fast immer gleich. Anfangs zeigten sich alle abweisend, ihre Antworten waren ausweichend oder dreiste Lügen. Doch irgendwann rutschte ihnen unversehens etwas heraus, und sie wurden plötzlich gesprächig und redeten sich um Kopf und Kragen. Trotz mehrmaliger Versuche gelang es Roger aber nicht, die Indios zu einer Aussage zu bewegen.
Am 16. Oktober 1910 zogen Roger, Juan Tizón und die anderen Kommissionsmitglieder, begleitet von drei Barbadiern und zwanzig Indios der Ethnie der Muinanes, die das Gepäck trugen, durch den Busch nach Matanzas. Unterwegs notierte Roger eine Idee, die in seinem Kopf Gestalt anzunehmen begonnen hatte, seit er in Iquitos angekommen war: »Ich bin zu der absoluten Überzeugung gelangt, dass die Eingeborenen von Putumayo ihrem Elend einzig dadurch ein Ende bereiten können, indem sie eine bewaffnete Erhebung gegenihre Herrn durchführen. Es ist realitätsfremd und illusorisch, wie Juan Tizón zu glauben, die Situation würde sich ändern, sobald der peruanische Staat Obrigkeit, Richter und Polizei hierherbringt und die seit 1854 geltenden Gesetze durchsetzt, die Knechtschaft und Sklaverei verbieten. Wie sollte das etwa in Iquitos funktionieren, wo die Familien den Menschenhändlern zwanzig oder dreißig Soles für geraubte Kinder zahlen? Vielleicht durch die Beamten, Richter und Polizisten, die ihre Löhne von Arana beziehen, weil der Staat sie ihnen nicht bezahlen kann oder weil Bürokraten und Langfinger sie einstreichen? In Peru ist der Staat in die Ausbeutung und Ausrottung der Indios unmittelbar involviert. Die Eingeborenen können sich von seinen Institutionen nichts erhoffen. Wenn sie frei sein wollen, müssen sie sich diese Freiheit mit eigenen Händen und mit viel Mut erkämpfen. Wie der Bora-Häuptling Katenere. Aber ohne sich theatralisch zu opfern wie er. Sie müssen bis zum bitteren Ende kämpfen.«
Diese Sätze hallten in ihm nach, während er schnellen Schrittes marschierte und mit einer Machete Lianen, Zweige und Gestrüpp aus dem Weg schlug. Und dann plötzlich dachte er: ›Wir Iren sind wie die Huitotos, die Boras, die Andokes und die Muinanes von Putumayo. Kolonisiert und ausgebeutet, und das bis in alle Ewigkeit, sofern wir weiter die Gesetze, Institutionen und Regierungen Englands hinnehmen. Auf diese Weise werden wir niemals die Freiheit erlangen. Warum sollte das Imperium, das uns kolonisiert, uns die Freiheit schenken, wenn es nicht gewaltig unter Druck gesetzt und dazu gezwungen wird? Und solchen Druck können nur Waffen erzeugen.‹ Dieser Gedanke, der in den folgenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren immer drängender werden sollte – dass sich Irland wie die
Weitere Kostenlose Bücher