Der Traum des Kelten
Indios von Putumayo die Freiheit erobern müsse –, beherrschte ihn während des achtstündigen Marsches derart, dass er darüber sogar die unmittelbar bevorstehende Begegnung mit Armando Normand vergaß.
Die Station Matanzas lag am Cahuinari, einem Nebenfluss des Caquetá. Sie mussten auf den letzten Metern eine steileBöschung erklimmen, die der Platzregen in einen schlammigen Sturzbach verwandelt hatte. Nur den Muinanes gelang es, hinaufzukommen, ohne hinzufallen. Alle anderen glitten aus, rutschten den Hang wieder hinab und zogen sich dabei böse Prellungen zu. Als sie endlich das Lager erreichten, das, wie die anderen Stationen auch, von einem Bambuszaun umgeben war, kamen einige Eingeborene mit Wasserkübeln herbeigeeilt und wuschen ihnen den Dreck ab.
Der Vorsteher war nicht in der Station. Er machte Jagd auf fünf Indios, die es geschafft hatten, sich über die nahe kolumbianische Grenze abzusetzen. Die fünf Barbadier, die in Matanzas arbeiteten, verhielten sich äußerst respektvoll gegenüber dem »Herrn Konsul«, über dessen Mission sie bestens unterrichtet waren. Sie brachten die Gäste zu ihren Unterkünften. Roger, Louis Barnes und Juan Tizón wurden in einer großen, mit Fliegenfenstern versehenen Hütte aus Palmholzbrettern und Palmblattdach einquartiert, in der, so sagte man es ihnen, Normand und dessen Frauen wohnten, wenn sie in Matanzas weilten. Normands eigentliches Haus befand sich in La China, einer kleinen Siedlung zwei Kilometer flussaufwärts, die die Indios nicht betreten durften. Dort lebte der Vorsteher von seinen bewaffneten Verständigen bewacht, denn er fürchtete, dass die Kolumbianer ihm nach dem Leben trachteten, die ihn beschuldigten, die Grenze nicht zu respektieren und sie bei seinen Treibjagden zu überqueren, um Träger zu entführen oder flüchtige Indios einzufangen. Die Barbadier erklärten, Armando Normand nehme seine Frauen überall mit hin, denn er sei sehr eifersüchtig.
Die Indios in Matanzas waren Boras, Andokes und Muinanes, Huitotos gab es keine. Beinahe alle wiesen Narben von Peitschenhieben auf, und mindestens ein Dutzend trug das Brandzeichen des Hauses Arana auf dem Hinterteil. Der Fußblock stand in der Mitte des Lagers, unter einem der hier Lupuna genannten, mit Knubbeln und Schmarotzerpflanzen bedeckten Kapokbäume, denen alle Stämme der Region eine ängstliche Ehrfurcht entgegenbrachten.
In seinem Zimmer, ganz ohne Zweifel das von Normand selbst, stieß Roger auf vergilbte Fotografien von dem milchgesichtigen Vorsteher und auf ein 1903 ausgestelltes Diplom einer Londoner Buchhalterschule. Es stimmte also, Normand war in England ausgebildet worden.
Bei Einbruch der Nacht zog Armando Normand in Matanzas ein. Roger sah ihn draußen im Schein der Laternen vorbeigehen, klein und schmächtig, fast so ausgemergelt wie die Eingeborenen, gefolgt von seinen Jungs, mit Winchester-Gewehren und Revolvern bewaffnete Galgenvögel, und zehn Frauen in den traditionellen Cushmas , und die benachbarte Hütte betreten.
Nachts wachte Roger mehrmals auf. Voller Unruhe dachte er an Irland und wurde von Heimweh übermannt. Auch wenn er wenig Zeit in seinem Land verbracht hatte, fühlte er sich ihm immer tiefer verbunden. Es drängte ihn, so schnell wie möglich den Bericht zu schreiben und nach Irland zurückzukehren, um sich im Verbund mit Gleichgesinnten der nationalen Sache zu widmen. Er würde die verlorene Zeit wettmachen und alles daransetzen, die Iren davon zu überzeugen, dass sie, wenn sie ihre Freiheit wollten, entschlossen und opferbereit für sie kämpfen müssten.
Als er am nächsten Tag zum Frühstück kam, saß Armando Normand schon am Tisch. Zum Kaffee gab es Früchte und Maniokscheiben als Brotersatz. Normand, auch bei Licht besehen alles andere als imposant, hatte das Gesicht eines alten Kindes, einen stahlblauen Blick und blinzelte unaufhörlich. Er trug Stiefel, eine blaue Latzhose, ein weißes Hemd und darüber eine Lederweste. Aus einer der Westentaschen ragten ein Notizheft und ein Stift. Er trug einen Revolver am Gürtel.
Er begrüßte Roger wortlos mit einem beinahe unmerklichen Kopfnicken. Einsilbig antwortete er auf Fragen zu seinem Leben in London und seiner Nationalität – »sagen wir, ich bin Peruaner« –, in einem perfekten Englisch, dessen seltsamen Akzent Roger jedoch nicht verorten konnte. Als Rogerihm erläuterte, wie schockiert die Kommissionsmitglieder darüber seien, dass in einer britischen Gesellschaft Eingeborene auf
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