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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Nächten, er schlief nie mehr als vier oder fünf Stunden, skizzierte er im Geiste schon den Bericht, den er für das Foreign Office verfassen würde. Er hatte eine klare Vorstellung der möglichen Gliederung. Zunächst eine Schilderung Putumayos vor zwanzig Jahren, das Eintreffen der ersten Pioniere, die das Land der Eingeborenenstämme in Besitz nahmen. Dann der Beginn der Treibjagden, für die die Pioniere keinerlei offizielle Sanktion befürchten mussten, da es in der Region weder Polizei noch Richter gab. Sie selbst waren gewissermaßen die einzige Obrigkeit, legitimiert durch ihre Feuerwaffen, gegen die Schleudern, Lanzen und Blasrohre kaum etwas ausrichten konnten. Er musste veranschaulichen, wie die Ausbeutungsmechanismen der Kautschukindustrie funktionierten, wie dabei die Eingeborenen versklavt und systematisch misshandelt wurden, vor allem durch habgierige Vorsteher, die auf Beteiligungsbasis angestellt waren und ihre Arbeiter körperlich züchtigten, verstümmelten und ermordeten. Die Vorsteher konnten, da sieniemandem Rechenschaft ablegen mussten, unbehelligt ihre sadistischen Neigungen ausleben.
    Könnte sein Bericht etwas bewirken? Die Peruvian Amazon Company würde öffentlich gerügt werden, das auf jeden Fall. Die britische Regierung würde die peruanische Regierung auffordern, die für die Verbrechen Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Aber würde Präsident Augusto B. Leguía dieser Aufforderung nachkommen? Juan Tizón meinte, die Enthüllungen würden nicht nur in London, sondern auch in Lima einen Skandal auslösen. Die Öffentlichkeit würde eine Bestrafung der Schuldigen verlangen. Aber Roger hatte da seine Zweifel. Was konnte die peruanische Regierung in Putumayo ausrichten, wo sie keinen einzigen Repräsentanten hatte und die Gesellschaft Julio C. Aranas sich mit Recht brüstete, dass sie es sei, die – mit ihrer Bande Totschläger – die peruanische Oberherrschaft über die Region verteidige? Es würde bei hehren Beteuerungen bleiben. Das Martyrium der Indiogemeinschaften im Amazonasgebiet würde andauern bis zu ihrer vollständigen Ausrottung. Diese Aussicht war nicht besonders ermutigend, doch Roger wollte sich davon nicht lähmen lassen, sondern sich im Gegenteil noch entschiedener seiner Sache widmen. Die Hefte und Notizblätter, die er mit seiner gut lesbaren, fliegenden Schrift füllte, stapelten sich bereits.
    Von Último Retiro aus begaben sie sich nach Entre Ríos, zunächst per Schiff, dann zu Fuß quer durch dichten Regenwald. Roger war von dieser Begegnung mit der Natur sehr angetan, vergegenwärtigte sie ihm doch die Expeditionen, die er früher in Afrika unternommen hatte. Zwölf Stunden lang mussten sie sich durch den Busch schlagen, versanken an manchen Stellen bis zur Hüfte im Morast, glitten auf Abhängen aus, die von Gestrüpp überwuchert waren, bewegten sich streckenweise in Kanus fort, die die Eingeborenen mit Stangen durch schmale Wasserläufe lenkten, und obwohl Roger wieder die alte Begeisterung verspürte, führte ihm das alles doch auch vor Augen, dass inzwischen viel Zeit vergangen und erin sehr viel schlechterer körperlicher Verfassung war als damals. Er musste sich nicht nur mit Schmerzen in den Armen, Beinen und im Rücken herumplagen, sondern auch gegen eine übermächtige Müdigkeit ankämpfen, die er nur mit Mühe vor den anderen vertuschen konnte. Doch auch Louis Barnes und Seymour Bell waren auf halbem Wege bereits so erschöpft, dass sie von jeweils vier der insgesamt zwanzig Eingeborenen, die sie begleiteten, in Hängematten getragen werden mussten. Roger beobachtete beeindruckt, wie die mageren Indios mit ihren dürren Beinen stundenlang leichtfüßig mit Gepäck und Proviant auf den Schultern dahinmarschierten, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Während einer der Pausen bat Roger, unter den Eingeborenen ein paar Dosen Sardinen verteilen zu lassen.
    Unterwegs sahen sie Schwärme von Papageien und viele weitere Vogelarten, verspielte Äffchen, die schelmisch dreinschauten und die im Volksmund »kleine Mönche« hießen, Leguane mit triefäugigem Blick, deren ledrige Haut von den Ästen und Baumstämmen, auf denen sie kauerten, kaum zu unterscheiden war. Und schließlich amazonische Seerosen, deren mächtige kreisförmige Blätter wie Floße in den Lagunen trieben.
    Sie kamen bei Sonnenuntergang in Entre Ríos an. In der Station herrschte helle Aufregung: Eine Indiofrau, die sich vom Lager entfernt hatte, um nach Brauch der Eingeborenen am

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