Der Traum des Kelten
Löhne bezahlt und auch sonst sahen die Eingeborenen keinen Heller. Im Magazin der Station bekamen sie ihre Arbeitsgerätschaften ausgehändigt – ein Messer zum Anritzen der Bäume, Dosen zum Aufnehmen des Latex, Körbe zur Aufbewahrung des zu Röllchen oder Bällen geformten Kautschuks –, dazu Kleidung, Lampen, Samenkörner und Lebensmittel. Die Preise wurden von der Gesellschaft festgelegt, so dass die Indios immer in der Schuld standen und für den Rest ihres Lebens arbeiten mussten, um diese Schuld zu begleichen. Da die Vorsteher keine Gehälter, sondern Provisionen für den Kautschuk bekamen, der in ihrer Station eingebracht wurde, waren sie unerbittlich in ihren Forderungen. Während der zwei Wochen, die die Sammler sich in den Busch begaben, blieben ihre Frauen und Kinder als Geiseln zurück. Die Vorsteher und Verständigen sprangen nach Belieben mit ihnen um, nahmen sie als Bedienstete oder um ihre sexuellen Gelüste zu stillen. Jeder von ihnen hatte einen wahren Harem, dessen Mädchen – etliche vorpubertäre darunter – sie nach Lust und Laune auswechselten, wobei es mitunter allerdings zu Eifersuchtsszenen und Abrechnungen mit Pistole oder Messer kommen konnte. Wenn die Sammler in die Station zurückkehrten, lieferten sie den Kautschuk ab, der dann auf den falsch geeichten Waagen gewogen wurde. Innerhalb von drei Monaten mussten sie dreißig Kilogramm zusammenbringen, und wenn sie dies nicht schafften, wurden sie Bestrafungen unterzogen, die von Auspeitschen und Fußblock bis zum Abschneiden von Ohren oder Nase oder manchmal sogar bis zur Folter und Ermordung der jeweiligen Frauen und Kinder reichten. Die Leichen wurden nicht vergraben, sondern in den Wald geworfen und den wilden Tieren überlassen. Alledrei Monate kamen die Boote und Dampfschiffe der Gesellschaft, um den Kautschuk abzuholen, der in der Zwischenzeit geräuchert, gewaschen und mit Talk bestreut worden war. Die Schiffe brachten ihre Ladungen von Putumayo nach Iquitos oder auch direkt nach Manaus, von wo aus sie nach Europa und in die Vereinigten Staaten exportiert wurden.
Roger beobachtete, dass ein Großteil der Verständigen keinerlei produktiven Beschäftigung nachging. Sie waren bloße Kerkermeister, Folterer und Ausbeuter der anderen Indios. Den ganzen Tag lagen sie rauchend und trinkend herum, schäkerten, erzählten Witze, spielten Ball oder erteilten den Arbeiter-Indios Befehle. Diese mussten Hütten bauen, vom Regen eingedrückte Dächer richten, Lasten schleppen, den Pfad zur Anlegestelle ausbessern, waschen, putzen, kochen, alles Mögliche holen oder bringen, und in der wenigen freien Zeit, die ihnen blieb, bestellten sie ihre eigenen Felder.
Roger hatte Verständnis für die Fassungslosigkeit seiner Reisegenossen. Wenn selbst er, der in zwanzig Jahren Afrika alles gesehen zu haben glaubte, nervlich angegriffen war, mitunter kaum noch gegen seine Niedergeschlagenheit ankam, wie musste es dann erst jemandem ergehen, der die zivilisierte Heimat kaum verlassen hatte und davon ausging, dass es in jedem Land der Welt Gesetze, Polizei, kirchliche Autorität und verbindliche Werte gab, die die Menschen daran hinderten, der Barbarei zu verfallen.
Roger wollte tatsächlich um der Vollständigkeit seines Berichts willen in Putumayo ausharren. Aber er hatte noch ein anderes Motiv: seine Neugierde auf einen Menschen, der allen Zeugnissen nach der Inbegriff der Grausamkeit sein musste: Armando Normand, der Vorsteher von Matanzas.
Bereits in Iquitos hatte Roger Anekdoten gehört, die Normand mit so unsagbaren Schandtaten in Verbindung brachten, dass der Gedanke an den Vorsteher ihn bald ständig umtrieb und dieser Mann ihn manchmal sogar in Albträumen heimsuchte, aus denen er schweißgebadet und mit Herzrasen erwachte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass einiges, was dieBarbadier über Normand berichteten, eher ihrer überhitzten Fantasie zuzuschreiben war. Doch allein die Tatsache, dass sich um seine Person derartige Legenden rankten, ließ auf einen Menschen schließen, der an Brutalität Übeltäter wie Abelardo Agüero, Alfredo Montt, Fidel Velarde, Elías Martinengui und Konsorten noch übertraf.
Niemand wusste, welcher Nationalität Normand angehörte – ob Peruaner, Bolivianer oder Engländer –, doch alle stimmten überein, dass er noch keine dreißig Jahre alt sei und in England studiert habe. Juan Tizón hatte gehört, er habe ein Diplom von einer Londoner Buchhalterschule.
Es hieß, er sei klein, mager und
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