Der Traum des Satyrs
breiter aus.
Vincent ignorierte seinen Freund und versuchte, sich das Bündel zu schnappen, was seiner Würde allerdings erheblichen Abbruch tat.
Marco war darauf jedoch vorbereitet, zog es weg und warf es dem überraschten Anthony zu. »Nun komm schon, zeig sie uns doch einfach mal, oder gib uns wenigstens einen Namen, dann bist du uns wieder los!«
»Hier ist keine Frau, sage ich euch. Wenn ihr gekommen seid, um etwas zu sehen zu bekommen, dann seid ihr umsonst hier. Ich brauche das Kleid, weil ich in der Anderwelt auf einen Maskenball gehen muss«, flunkerte Vincent leichthin.
»Anthony?« Marco sah seinen Bruder an. Auch Vincent warf Anthony einen wütenden Blick zu, der ihn davor warnen sollte, die Unwahrheit, die er eben geäußert hatte, aufzudecken.
»Woher soll ich das wissen? Julius ist doch der mit dem Überblick über Vincents gesellschaftliche und geschäftliche Verpflichtungen.«
Marco sah ihn unbeirrt an. »Eine ganz einfache Lüge, großer Bruder. Du in einem Kleid von meiner Frau? Der Rocksaum würde dir kaum bis zu den Knien reichen. Also gestehe! Für wen ist es wirklich?«
»Geht dich nichts an.« Vincent versuchte wieder, sich das Paket zu schnappen, aber Anthony hatte den Sinn des Spielchens erfasst; er wich aus und warf es zu Marco zurück.
»Landon! Jetzt steh nicht einfach so da, du Verräter! Hilf mir!«, rief Vincent.
Landon hob verteidigend beide Hände. »Da bist du auf dich allein gestellt. Ich muss zugeben, langsam bin ich so neugierig wie deine Brüder.«
Marco hielt das Paket derweil hinter seinem Rücken. »Komm schon, Vincenzo! Wenn du nicht willst, dass wir davon erfahren, warum fragst du dann ausgerechnet mich nach einem Kleid?«
»Vielleicht, weil Daniela nicht hier ist? Vielleicht, weil du der einzige verheiratete Bruder bist, den ich habe?«
»Warum hast du deine Bitte nicht an Mutters Diener gerichtet?«, warf Anthony ein. »Ich glaube, in den vielen Schränken, die sie hat, befinden sich noch ein oder zwei Gewänder.«
Vincent zog die Brauen zusammen, und obwohl er wusste, dass seine Mutter, die kultivierte Lady Jane Satyr, zusammen mit seinem Vater und seiner Schwester auf Reisen war, senkte er seine Stimme, als fürchtete er, sie könnte ihn belauschen. »Diese Angelegenheit sollte unter uns bleiben – vorerst.«
Ein Ausdruck amüsierter Zufriedenheit zeigte sich in Marcos Gesicht, und er schob Vincents Hemdkragen beiseite. »Aha! Eindeutige Spuren, hier an deinem Hals.« Er tippte Vincent mit einem Finger auf die Brust. »Du hast
doch
eine Frau hier! Wo ist sie? In deinem Schlafzimmer?« Er reckte den Hals und versuchte, um die massige Gestalt seines älteren Bruders herum zum oberen Ende der Treppe zu spähen.
Vincent zog seinen Hemdkragen höher, um den blauen Fleck zu verbergen, den die Nebelnymphe dort hinterlassen hatte. »Also gut, ja! Ich habe eine Frau hier zu Gast. Seid ihr drei jetzt hinreichend zufriedengestellt? Dann hört jetzt bitte auf, meine Zeit zu verschwenden! Würdet ihr einfach …«
Marco kicherte. »Warte nur, bis Mutter davon Wind bekommt! Sie wird für deine Verlobung sorgen und …«
Als Vincent wieder nach dem Paket griff, warf Marco es Landon zu.
»Nicht so schnell!«, wehrte Landon Vincent ab, als dieser daraufhin auf ihn losgehen wollte. Während er mit der einen seiner rauhen Hände das Paket außer Reichweite hielt, legte er die andere flach auf Vincents Brust und sah ihn einen langen Moment so durchdringend an, wie es nur seine scharfsinnigen grauen Augen konnten.
Was auch immer er da in Vincents Miene las, wirkte ernüchternd auf ihn. »Oh, verdammt will ich sein!«
»Götter!«, keuchte Marco gleichzeitig auf.
»
Sie
ist es!«, fiel Anthony ein und deutete verblüfft die Treppe hinauf.
Vincent drehte sich um, während er schon ganz genau wusste, wen er gleich zu sehen bekäme. Wie er vermutet hatte, war es die Nebelnymphe, die nun mit einer Hand am Geländer oben an der Treppe stand und im Begriff war, einen Fuß auf die erste Stufe nach unten zu setzen. Sie war frisch gebadet und hatte sein Hemd wieder angezogen, das nun wie ein Morgenrock ohne Gürtel oder Knöpfe vorn offen stand. Ihre leuchtenden wohlgeformten Beine darunter waren lang und unbekleidet, und das üppige Haar fiel ihr wie Mondstrahlen über Schultern und Rücken.
Irgendwie war es ihr wohl gelungen, die Schlafzimmertür aufzusperren. Oder hatte sie es vielleicht geschafft, sich für einen Moment wieder in dem magischen Nebel aufzulösen, aus dem
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