Der Traum des Schattens
in der Stadt.« Er fletschte wölfisch die Zähne. » Ihr Fürst ist so höflich, mich Prinz zu nennen.«
» Erzähl weiter. Hör nicht auf zu reden, bitte.«
Die Brücke schwang immer heftiger hin und her. Hanna schrie erstickt auf und ließ sich auf alle viere fallen.
» Panik?«, fragte Kunun. » Du musst nur wieder aufstehen und weitergehen.«
» Ich hasse dich«, stöhnte sie.
» Nein, du hasst mich nicht. Man muss die Leute hier beeindrucken, oder man hat von vornherein verloren. Diese Brücke ist der Schlüssel dazu, ihren Respekt zu gewinnen. Gewöhne dich daran, dass sie schaukelt, akzeptiere es. Das ist die einzige Möglichkeit, um weiterzukommen.«
» Du sollst nicht immer so philosophisch daherschwafeln«, knurrte sie. » Ich habe Angst!«
» Das ist gut so. Denn dann kann ich annehmen, dass du nicht den ganzen Tag hier verbringen willst. Komm.« Er fasste sie an den Schultern und zog sie hoch. » Wir werden nicht vor ihnen kriechen. Wir schreiten ihnen entgegen und verlangen ihnen den Respekt ab, den sie uns schulden.«
Ihre Unsterblichkeit zählte nichts, hier über dem Abgrund in den Wolken. Der Wind spielte in ihrem Haar, ließ ihre Kleider flattern. Hanna schauderte, wenn sie daran dachte, dass ihr auch noch der Rückweg bevorstand.
» Weißt du, wie der König von Akink Jaschbiniad erobert hat? Er ist hergekommen und hat die Bewohner zu einem Fest eingeladen. Hochnäsig, wie Adler nun einmal sind, sperrten sie ihn in einen der Türme, von dem höchstens ein Vogel entkommen konnte, und machten sich auf, um selbst in Akink einzufallen und die Stadt ihrem eigenen Fürsten zu unterwerfen. Weil sie fliegen konnten, fühlten sie sich dem Volk, in dessen Adern Wolfsblut floss, weit überlegen. Doch als sie am Donua eintrafen, empfing sie der König. Er war schon, welch Wunder, zu Hause! Da warfen sie sich vor ihm in den Staub und erkannten ihn an.«
» Wie hat er das gemacht?«
» Er hat sie beeindruckt. Das ist der Kern der alten Geschichte. Bring deine Feinde zum Staunen, zeig ihnen einen Schimmer deiner Macht, und sie werden die Knie beugen und hoffen, dass du ihnen nicht deine ganze Macht offenbarst.«
Die Stadt rückte immer näher. Vor ihnen verschwand die Brücke in einem finsteren Torbogen. Eine Bewegung verriet Hanna, dass dort jemand stand, ein Wächter vermutlich.
» Werden sie uns einfach so durchlassen, obwohl du ihr Feind bist?«
» Ich bin nicht ihr Feind, sondern ihr Herr.«
Fünf Wächter, zwei davon Frauen, erwarteten sie, alle mit scharfen, gebogenen Nasen und funkelnden, erbarmungslosen Augen. Sie trugen federbesetzte Westen und graue, schuppige Helme.
» Halt!«, rief eine der Frauen. » Die Bretter unter euren Füßen sind mit diesem Hebel hier verbunden, auf dem meine Hand liegt.«
Sie mussten gar nicht die ganze Brücke lösen, um unerwünschte Eindringlinge fernzuhalten, ein paar Bretter genügten. Wie lange man wohl fiel, bis ganz unten?
» Keinen Schritt weiter. Nennt Euren Namen und Euer Begehr!«, bellte die Wächterin schroff.
Kunun schwieg und zeigte seine Fangzähne.
Einer der Wächter erbleichte. » Es ist der Prinz«, sagte er zu den anderen. » Macht jetzt bloß keinen Fehler.« Hastig verschränkte er die Arme und neigte den Kopf. » Willkommen in Jaschbiniad, Prinzliche Hoheit. Verzeiht den Irrtum, meine Kameradin hat Euch nicht erkannt.«
Die übrigen Wächter grüßten Kunun auf dieselbe Art. Ehrerbietig verbeugten sie sich.
» Meldet mich dem Fürsten«, sagte der Schattenkönig. Dann bot er Hanna den Arm und führte sie von der Brücke hinunter auf festen, dunklen Fels.
Am liebsten hätte sie sich auf den Boden geworfen und den Stein geküsst.
Der jüngste Wächter kletterte flink an einer Strickleiter in die Höhe und verschwand.
» Der Fürst wird auf unser Kommen vorbereitet«, erklärte Kunun, während er Hanna über eine gewundene Straße führte, die sich in den Berghang hineingrub. » Er hat mich schon lange nicht mehr gesehen, vermutlich schwitzt er in diesem Moment Blut und Wasser, bevor ich ihm den Grund meiner Anwesenheit mitteile.«
» Warum?«, fragte Hanna. » Warum haben sie alle solche Angst vor dir? Sie hätten den Hebel ziehen können, wenn sie dich hier nicht haben wollen. Dann wären sie dich ein für alle Mal los. Ihren bösen Blicken nach hätten sie da sicher wenig Skrupel.«
» Wir haben schon vor langer Zeit ausgemacht, dass sie das besser nicht tun«, meinte er selbstgefällig. » Nicht mit mir. Ich habe loyale
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