Der Traum des Schattens
erzählt– entweder sie hatte es nach dem Aufwachen vergessen, oder sie hatte diesen Traumbegegnungen keinen großen Wert beigemessen.
» Das nächste Mal, wenn er zu dir kommt, kannst du ihm dann etwas von mir ausrichten? Er soll in Hannas Träume gehen. Er soll herausfinden, wo sie ist, und es dir dann sagen. Würdest du das für mich tun?«
» Klar«, meinte der Junge. » Sie ist in Schwierigkeiten, stimmt’s?«
» In sehr großen Schwierigkeiten«, bestätigte er.
12
AKINK, MAGYRIA
» Wohin fahren wir?« Hanna stieg in die offene Kutsche und machte es sich auf der Rückbank bequem. Dicke Felle bedeckten die Sitze, darauf ein Korb, der ein üppiges Picknick enthalten mochte. Dabei hatte sie erwartet, dass sie sich künftig nur noch von Blut ernähren würde.
» Eine Überraschung, meine Liebe.« Kunun nahm neben ihr Platz und legte den Arm um sie. » Fahr los, Rubian.«
Der Kutscher war ein älterer Schatten mit langem Haar, das ihm wie eine Kaskade grauer Schnüre über den Rücken fiel. Auf ein Schnalzen hin setzten sich die beiden Pferde in Bewegung. Die Räder rumpelten über das unebene Pflaster, leicht bergab auf die Brücke zu.
» Was weißt du eigentlich von Magyria?«, fragte Kunun. » Du kennst nur Akink, den Wald, den Fluss und eine Brücke. Reichlich wenig, findest du nicht?«
» Was gibt es denn noch zu sehen?« Hanna fühlte, wie sich ihre Aufregung steigerte. Sie liebte Ausflüge ins Unbekannte!
» Die Städte des Südens«, erzählte er, » waren hundert Jahre lang von der Hauptstadt abgeschnitten. Woran ich nicht ganz unschuldig bin, wie ich zugeben muss. Sie hatten keinen Kontakt mehr zu ihrem König, also haben sie einen anderen Weg gewählt, um diese Zeit zu überstehen.« Er zögerte. » Ich möchte nicht zu viel verraten.«
» Wir haben nur ein paar Tage, oder? Du hast gesagt, am nächsten Wochenende findet wieder eine große Feier im Tanzsaal statt.«
» Ja«, bestätigte er. » Das ist mittlerweile Tradition in Akink. Aber bis dahin sind wir zurück.«
Hanna hatte seit drei Tagen nicht geschlafen. Sie vermisste es nicht, denn es gab viel zu viel zu sehen. Während die Pferde durch den dichten Wald dahinjagten, saß Kunun aufrecht da und wirkte wachsam.
» Ist es hier gefährlich?«, fragte Hanna.
» Ich habe Feinde«, sagte Kunun leise. » Doch sie sind nicht hier. Sie sind damit beschäftigt, ihre Wunden zu lecken und Pläne zu schmieden. Mein Vater ist entkommen, das wird ihnen Auftrieb verleihen. Aber«, seine Stimme wurde lauter, » davon lassen wir uns den Tag nicht verderben, Liebste.«
Die Dunkelheit, die über Akink lag, verlor sich allmählich, und das trübe Zwielicht wurde von einem neuen Morgen abgelöst, der rot und flammend am Horizont heraufzog. Eine Ahnung von Gewitter lag in der Luft, und den ganzen Tag wurde es nicht richtig hell, wodurch die Hügel umso eindrücklicher wirkten. Die Kutsche rollte durch eine Landschaft, die immer wilder und bergiger wurde. Es war, als bewegten sie sich durch ein Ölgemälde. Die Wolken über ihnen glänzten senffarben und schienen die Wipfel der Bäume zu berühren. Hier gab es keinen dichten Wald mehr, nur verstreut einige Haine, die sich an die Hänge schmiegten. In der Ferne grollte Donner. Sie überquerten einen breiten, schnell dahinfließenden Bach durch eine Furt, und sobald sie am anderen Ufer angekommen waren, befahl Kunun dem Kutscher, Halt zu machen. Er sprang aus dem Wagen und reichte Hanna die Hand.
» Wenn du noch ein normaler Mensch wärst, könntest du dich nach einer solchen Fahrt kaum rühren«, meinte er. » Du wärst so steif und zerschlagen, dass du keine Freude mehr an diesem herrlichen Platz hättest. Wir machen diese Pause nicht, um uns zu erholen, sondern nur, damit dir nicht langweilig wird.«
Hanna sah sich um. Rauschend tobte das Wasser über die Steine. Silbrige Fische schossen hin und her. Ein feiner Nebel hing über dem Bach.
» Ist dieses Wasser für unsereins tatsächlich ungefährlich? Wirkt es nicht wie der Donua?«
Statt einer Antwort hockte er sich hin, streifte die Handschuhe ab und tauchte die bloßen Hände hinein. » Es ist erfrischend kalt. Hier ist einer meiner Lieblingsorte.«
Hanna kniete sich neben ihn. Schmetterlinge und Libellen huschten über die Wasseroberfläche. Ein kleiner, leuchtend grüner Vogel stürzte sich kopfüber in die Wellen und tauchte ein paar Meter weiter flussabwärts wieder auf, einen Fisch im Schnabel. Kununs Hände im Wasser waren rot. Fehlte da
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