Der Traum des Schattens
nicht ein Finger? War da nicht ein Knochensplitter?
Als er merkte, dass sie ihn betrachtete, zog er die Hände rasch zurück. » Wie gefällt dir der Vogel dort?«
» Er sieht fast aus wie ein Eisvogel, aber es ist keiner. Wie heißt er?«
» Ich weiß nicht, wie sein richtiger Name lautet, aber ich nenne ihn den Jagdprinzen.« Er lächelte, als sie ihn erwartungsvoll ansah. » Du willst wissen, warum? Weil er in ein Element eintaucht, das nicht das seine ist, unerschrocken, unermüdlich. Manchmal geht es übel für den kleinen Vogel aus. Hin und wieder erwischt er einen Fisch, der sich wehrt und kämpft, aber was der Jagdprinz einmal im Schnabel hat, lässt er nicht mehr los. So kommt es, dass er ertrinkt, statt sich zu retten.«
» Wie furchtbar. Das klingt alles andere als romantisch.«
» Die Natur hat für Romantik nicht viel übrig, Liebste. Fressen und gefressen werden. Dieser kleine Vogel erinnert mich übrigens an jemanden, den du noch kennenlernen wirst. Jemand, der nicht weiß, wann er aufgeben muss. Er wird eines Tages an seiner eigenen Hartnäckigkeit ersticken.«
Etwas weiter von ihnen entfernt tränkte Rubian die mittlerweile abgeschirrten Pferde.
» Warum sind die Tiere nicht müde?«
» Weil es Schattenpferde sind, mein Schatz.«
» Gibt es so etwas überhaupt?«
Kunun runzelte die Stirn. » Höre ich da etwa einen leisen Zweifel heraus?«
» Das ist doch unlogisch!«, protestierte Hanna. » Wenn Schattenwölfe mit ihrem Biss andere Tiere verwandeln könnten, wie sollen sie dann fressen? Es wäre äußerst ungünstig, wenn dadurch jede Beute in ein unsterbliches Schattenwesen verwandelt würde.«
» Dies ist eins der Geheimnisse von Magyria«, sagte Kunun leise. » Manchmal trifft der Jagdprinz auf einen Fisch, der stärker ist als er. Dasselbe passiert in Ausnahmefällen sogar den Schattenwölfen. Sie reißen Beute, die sich gegen sie wendet, die sich selbst in einen Schatten verwandelt und dadurch stark und unbezwingbar wird. Ich habe diese Pferde aufgenommen, wann immer ich eins davon gefunden habe. Sie tragen den Biss wie ein Brandzeichen, und sie sind so stolz und wild, dass sie nicht einmal vor einem Löwen davonrennen würden. Sie würden ihm mit einem gezielten Tritt den Schädel zerschmettern.«
» Warum lassen sie sich dann vor deine Kutsche spannen?«
Eines der Pferde, ein stolzer dunkelgrauer Hengst, hob den Kopf und blickte zu ihnen herüber.
» Jetzt trinken sie Wasser, aber im Grunde wollen sie etwas anderes. Ich bin der Einzige, der ihnen Blut bringt, und damit habe ich ihr Herz gewonnen. Manchmal, nicht zu oft, einen ganzen Eimer voll. Es sind bloß Pferde, Hanna. Im Gegensatz zu mir wissen sie nicht, wie man jagt.«
Nach dem Picknick ging die wilde Fahrt weiter, immer höher hinauf in die Berge. Am Mittag des dritten Tages erreichten sie eine Schlucht. Auf der anderen Seite, durch den Abgrund von ihnen getrennt, wuchs eine Stadt aus dem Fels. Halb hing sie über dem reißenden Gebirgsstrom, der von hier oben aus betrachtet kaum mehr als ein Rinnsal war. Es sah aus, als würden die Häuser und Türme wie ein Haufen Schnecken oder wie ein Wespennest an der steilen Wand kleben. Fasziniert und entsetzt zugleich betrachtete Hanna die Ortschaft. Wenn sie die Menschen nicht gesehen hätte, von hier aus klein wie Ameisen, sie hätte nicht geglaubt, dass wirklich jemand freiwillig über einer solch tiefen Schlucht leben könnte. Der Ort spottete allen Gesetzen der Physik.
» Beeindruckt?«, fragte Kunun. » Magyria ist voller Wunder. Die Felsenstadt Jaschbiniad ist eines davon. Es gibt noch reichlich mehr.«
» Das genügt erst mal, um mich umzuhauen.« Hanna merkte kaum, wie nah die Kutsche am Abgrund entlangschoss, so sehr war sie auf die hängende Stadt fixiert. » Nein, sag mir nicht, dass wir da rübermüssen.«
Vor dem Grau der Felsen war die Brücke fast unsichtbar, eine schmale Hängebrücke, die der Wind hin und her schaukelte. Unten in der Schlucht zogen kleine Wölkchen vorüber.
» Oh doch«, sagte Kunun heiter. » Sie sieht wackelig aus, aber sie hält seit Jahrhunderten allen Unwettern stand.«
» Dass sie bis jetzt gehalten hat, muss nichts heißen. Großer Gott, wie leben die Leute da drüben? Gehen sie täglich über dieses Hängeseil? Sind sie Zirkusartisten?«
» In der Tat wäre die Brücke breit genug für unsere Kutsche«, meinte er. » Und nein, die Jaschbiner sind keine Artisten. In diesem Teil des Landes hat es schon immer Schattenwölfe
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