Der Traum des Wolfs
sich über sich selbst. Sie nahm einen Rat von Rand al’Thor an?
Etwas an Rand war nun anders. Eine stille Eindringlichkeit und sorgfältig gewählte Worte. Er war ein Mann, von dem man einen Rat annehmen konnte, ohne das Gefühl zu haben, dass er einen belehren wollte. Eigentlich war er wie sein Vater. Nicht, dass sie das jemals vor einem von ihnen zugegeben hätte.
»Geh zu Egwene«, sagte Rand und ließ ihre Schulter los. »Aber wenn es möglich ist, hätte ich gern, dass du zu mir zurückkehrst. Ich werde deinen Rat brauchen. Aber auf jeden Fall hätte ich dich gern an meiner Seite, wenn ich zum Shayol Ghul gehe. Ich kann ihn nicht allein mit Saidin besiegen, und wenn wir Callandor einsetzen wollen, dann brauche ich einen Zirkel mit zwei Frauen, denen ich vertrauen kann. Ich habe mich noch nicht entschieden, wer die andere sein soll. Aviendha oder vielleicht Elayne. Aber dich auf jeden Fall.«
»Rand, ich werde da sein.« Sie verspürte einen absurden Stolz. »Halte einen Augenblick lang still. Ich werde dir nicht wehtun. Ich verspreche es.«
Er hob eine Braue, wehrte sich aber nicht, als sie mit der Tiefenschau in ihn hineinblickte. Sie war so müde, aber wenn sie ihn schon verlassen musste, dann musste sie diese Gelegenheit ergreifen, um ihn von seinem Wahnsinn zu Heilen. Plötzlich kam es ihr als die wichtigste Sache vor, die sie für ihn tun konnte. Und für die Welt.
Sie schaute in ihn hinein, mied die Wunden an seiner Seite, die finstere Abgründe waren, die scheinbar ihre Energie verschlingen wollten. Sie hielt ihre Aufmerksamkeit auf seinen Verstand gerichtet. Wo war der …
Sie versteifte sich. Die Finsternis war gewaltig, erstreckte sich über seinen ganzen Geist. Abertausende der winzigen schwarzen Dornen stachen in sein Gehirn, aber darunter lag ein grellweißes Netz aus etwas Undefinierbarem. Eine weiße Strahlung, wie flüssige Macht. Licht, dem man Form und Leben verliehen hatte. Sie keuchte auf. Es überzog jeden der dunklen Stachel, drang mit ihnen zusammen in seinen Verstand ein. Was hatte das zu bedeuten?
Sie hatte keine Ahnung, wo sie hier überhaupt ansetzen sollte. Es waren so viele Dornen. Wie konnte er mit dem Druck von so viel Dunkelheit auf sein Gehirn überhaupt denken? Und was hatte dieses Weiß erschaffen? Sie hatte Rand schon zuvor Geheilt, und es war ihr nie zuvor aufgefallen. Natürlich hatte sie bis vor Kurzem auch diese Dunkelheit nie gesehen. Vermutlich lag es daran, dass sie mittlerweile die Tiefenschau besser beherrschte.
Zögernd zog sie sich zurück. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann dich nicht Heilen.«
»Viele haben sich an diesen Wunden versucht - du doch auch. Sie sind einfach unheilbar. Heutzutage denke ich nicht viel an sie.«
»Nicht die Wunden in deiner Seite«, sagte sie. »Der Wahnsinn. Ich …«
»Du kannst Wahnsinn Heilen?«
»Ich glaube, bei Naeff habe ich es geschafft.«
Rand grinste breit. »Du hörst nie auf, mich zu … Nynaeve, ist dir eigentlich klar, dass selbst die talentiertesten Heiler im Zeitalter der Legenden bei Krankheiten des Verstandes nichts ausrichten konnten? Viele von ihnen vertraten die Ansicht, dass man Wahnsinn nicht mit der Einen Macht heilen kann.«
»Ich Heile die anderen«, sagte sie. »Vor meiner Abreise zumindest Narishma - und Flinn. Vermutlich haben sämtliche Asha’man wenigstens einen Hauch von diesem Makel in ihrem Verstand. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, in die Schwarze Burg zu gehen.« Oder ob ich dorthin will.
»Danke«, sagte Rand und sah nach Norden. »Aber nein, du solltest nicht zur Schwarzen Burg gehen. Ich muss jemanden dorthin schicken, aber das muss vorsichtig gehandhabt werden. Dort geht etwas vor. Aber ich habe so viel zu tun …«
Er schüttelte den Kopf, dann sah er sie wieder an. »Das ist eine Grube, die ich im Augenblick nicht überqueren kann.
Sprich bei Egwene gut von mir. Ich brauche sie als Verbündete. «
Nynaeve nickte, dann umarmte sie ihn - wobei sie sich albern vorkam - und eilte los, um Narishma und Flinn zu suchen. Eine Umarmung. Für den Wiedergeborenen Drachen. Sie wurde genauso närrisch wie Elayne. Kopfschüttelnd dachte sie, dass ihr der Aufenthalt in der Weißen Burg ja möglicherweise dabei half, ihre Vernunft wiederzufinden.
Die Wolken waren zurückgekehrt.
Egwene stand oben auf dem Turm der Weißen Burg, auf dem flachen, kreisrunden Dach, und stützte sich auf die hüfthohe Brüstung. Die Wolken hatten sich wie ein schleichender Pilz oder ein
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